Interview mit Dr. Markus Egermann

| Claudia Döring |

Auszug aus dem Dresdner Steckbrief „Woche des guten Lebens“ von Norbert Rost: Ein Stadtteil für Menschen statt für Autos – das ist das große Ziel der Dresdner „Woche des guten Lebens“! Mehr Raum für emissionsarme und platzsparende Mobilitätsformen soll geschaffen werden, das bedeutet, dass sich alle Verkehrsteilnehmer*innen gleichberechtigt im Straßenraum bewegen können. Das Projekt soll während der „Woche des guten Lebens“ im Mai 2021 neue Freiräume und damit Begegnungs- und Entfaltungsmöglichkeiten schaffen, die ein gutes Leben für alle ermöglichen. Dazu gehört, gemeinsam Ideen zu entwickeln und herauszufinden, wie wir im Stadtteil zusammenleben wollen. Veranstaltungen rund um alternative Mobilität, Aktivitäten mit der Nachbarschaft und neue Arten der Freizeitgestaltung sollen die leeren Parkflächen mit Leben füllen.

Döring, Stuhldisteln.de: Herr Egermann, danke für Ihre Bereitschaft, mit mir über den transformativen Wandel zu sprechen. Sie beschäftigen sich u.a. mit Transformationsprozessen und nachhaltiger Raumentwicklung und haben 2020 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung den Auftrag erhalten, das Experiment „Woche des guten Lebens“ wissenschaftlich zu begleiten.

Markus Egermann: Die Dresdner Neustadt sollte für eine ganze Woche frei vom fließenden und ruhenden Verkehr sein, damit Routinen unterbrochen werden und vor allem die Menschen, die dort wohnen und wie selbstverständlich ihr Auto gebrauchen und abstellen, sich eine Zeit lang eine andere Nutzung des freigewordenen Raums überlegen und sich diesen aneignen sowie neue Routinen in ihrer Alltagsorganisation ohne Auto testen können. Die Anwohner sollten erleben, so die Hoffnung der Bürger*innen, die dieses Experiment initiiert hatten, dass eine autofreie Gegend nicht nur mit Verzicht, sondern auch mit viel Gewinn an Lebensqualität einhergehen kann. Das Angebot: „Ihr macht Euch die Welt, wie sich Euch gefällt, und einigt Euch“.

Döring: Das Experiment hat nicht lange gedauert. Woran lag das?

Egermann: Es ist am Ende leider gar nicht zur Umsetzung gekommen. In der ersten Runde ist es an zwei fehlenden Genehmigungen durch die Stadtverwaltung gescheitert. Beim zweiten Anlauf kam Corona und verhinderte eine wichtige Zielstellung – die Interaktion in dem neu gewonnenen und temporär umgenutzten Raum. Zu dieser Zeit konnte aufgrund der Kontaktbeschränkungen niemand die Verantwortung für dieses Experiment übernehmen. Die fehlende Genehmigung durch das Ordnungsamt im ersten Versuch lag darin begründet, dass es kein Veranstaltungskonzept gab. Nur wenn das Experiment als Veranstaltung deklariert und ein klares Konzept mit Zeitablauf und Nutzungskonzept vorgelegt werden würde, könne das Ordnungsamt eine Genehmigung erteilen. Das wollte aber die Initiative rund um das Transformationsexperiment nicht. Sie wollte keinen Plan vorlegen, sondern schauen, was die Menschen mit dem frei gewordenen Platz machen wollen. Das wurde nach vielen Gesprächen dann später auch anerkannt und bewilligt, unter anderem, weil es als Forschungsprojekt anerkannt wurde, Bundesgelder zur Verfügung standen und der Ortsbeirat der Dresdner Neustadt sein Placet gab. Das Ordnungsamt bestand aber darauf, dass die Initiative genügend Ordnungshüter zur Verfügung stellt, um den Anrainern die Unannehmlichkeiten zu erklären. Und wer sichert die Veranstaltung, wenn es zu Auseinandersetzungen kommt? Das Ordnungsamt ist wie jede Behörde dazu da, bestehende Regeln zu beachten und durchzusetzen und in diesem Fall auch die Sicherheit aller zu gewährleisten. Die Verwaltung kann nicht jedem Vorschlag aus der Bürgerschaft nachgehen und von sich aus so ohne Weiteres bestehende Gesetze und Regularien infrage stellen. Damit kommen wir an Grenzen, was die Legitimation von bürgerschaftlichem Engagement innerhalb unserer demokratischen Strukturen betrifft.

Döring: War das das einzige Referat, das Bedenken geäußert hat?

Egermann: Das Straßen- und Tiefbauamt konnte dem Vorhaben im ersten Anlauf ebenfalls nicht zustimmen, da es nach eigener Auffassung sicherstellen muss, dass der Verkehr fließt und möglichst wenige Störungen bei den Verkehrsströmen auftreten sollten. Schließlich ist jede verkehrsfreie Zone eine physische Barriere, eine Sackgasse für Autos. Eine Umkehr der Fahrzeuge muss möglich sein, Wendemöglichkeiten müssen ausgewiesen werden, die in der Neustadt parkenden Autos müssen für das Experiment an anderer Stelle geparkt werden, Notdienste müssen Zufahrt zu allen Bereichen haben usw. Und die jeweiligen Amtsleiter*innen haften ja am Ende auch persönlich, wenn etwas schiefgeht, während zum Beispiel die politischen Spitzen „nur“ die politische Verantwortung übernehmen müssen. Da ist eine eher geringe Risiko- und Experimentierfreude nachvollziehbar, auch wenn wir das dringend bräuchten beim Thema Verkehrswende und generell, wenn wir Transformationsprozesse als Gesellschaft in den Blick nehmen wollen.

Döring: Gibt es Referate, die sich leichter tun?

Egermann: Ja natürlich, etwa bei der Stadtplanung oder auch im Umweltamt hat man das mit Interesse und Offenheit verfolgt, diese müssen aber formalrechtlich auch keine Genehmigung erteilen. Hinzu kommt, dass gerade Stadtplanerinnen und Stadtplaner in der Regel eine querschnittsorientierte Ausbildung und Aufgabe haben und damit einen gesamtheitlichen Blick auf viele Aspekte und Herausforderungen der Stadtentwicklung einnehmen. Da sind eine ausgewogene oder befürwortende Sicht über die unmittelbaren verkehrlichen und sicherheitsrelevanten Aspekte hinaus viel wahrscheinlicher, was dann eher zu einer kritisch-positiven Betrachtung eines solchen Experiments führt. Das war auch hier so. Man muss aber auch sagen, dass sowohl das Ordnungsamt als auch das Straßen- und Tiefbauamt in den Dialog mit den Initiatoren getreten sind und man gemeinsam, wenn auch mühsam, sich am Ende auf einen Kompromiss, eine abgespeckte Variante, einigen konnte, die dann wie gesagt durch die Pandemie nicht umgesetzt werden konnte.

Döring: Hat die Politik denn gegenüber der Verwaltung überhaupt ein Gewicht? Mir scheint, dass sich das vorherrschende Regelwerk immer mehr verdichtet. Man sichert sich immer mehr ab. Der für den Wiener Stadtbezirk 1 zuständige Pflasterbaumeister zum Beispiel sorgt dafür, dass immer mehr Pflastersteine durch helle Betonplatten ersetzt werden, wegen der Stolpergefahr und der Barrierefreiheit. Die Stadt hat viele Klagen erhalten und muss auch Entschädigungen zahlen, wenn die Kantenunterschiede eine bestimmte Höhe übersteigen.Klimatechnisch besteht der Pflasterbaumeister dabei auf hellen und dicken Platten, da sie länger brauchen, um die Wärme zu speichern und diese langsamer abgeben. Das könnte also das Münchner Fußgängerzonenpflaster ablösen, löst aber nicht das Problem der immer größeren Nivellierung aller Straßen.

Egermann: Man muss in jedem Fall sehen, dass Politik und Verwaltung nach unterschiedlichen Logiken agieren und sich dabei eines unterschiedlichen Instrumentariums bedienen. Natürlich hat die Politik ein Gewicht, was aber nicht heißt, dass ein politischer Willen einfach an die Verwaltung durchgestellt werden muss, und dann passiert das so. Eine Verwaltung hat beachtliche Mittel und Möglichkeiten, durch die Anwendung und Interpretation geltender Vorschriften ihrer eigenen fachlichen Perspektive und letztlich auch persönlichen Überzeugungen Ausdruck zu verleihen – durchaus auch entgegen politischer Vorgaben.

Döring: Genau, viele Dinge unterliegen aber einer starken Reglementierung mit vielen Vorschriften. Was uns zur rechtlichen Dimension bringt. Hilft es, Rechtsvorschriften zu ändern oder sie neu zu definieren?

Egermann: Rechtsprechung ist ein Aushandlungsprozess. Solange wir von Zonen (lacht) oder von Straßen reden, ändert sich wenig, fürchte ich. Wir sollten Raum erst mal als Gemeingut und Allmende verstehen und dessen Verteilung, Besitz und Nutzung gesellschaftlich neu verhandeln, und zwar mit Blick auf die Transformationsherausforderungen des 21. Jahrhunderts. Als nächstes müssten wir einen entsprechenden Ordnungsrahmen entwickeln, und dann werden wir auch über eine Umwidmung heutiger Straßenräume nachdenken, die dann im Ergebnis vermutlich ganz selbstverständlich erscheinen wird.

Döring: Ich danke Ihnen sehr für Ihre Einschätzung und Ihre Ermunterung. Das lässt hoffen.

Interviewpartner:
Dr. Markus Egermann ist Geograph, Raumplaner und Transformationsforscher. Seit 2020 leitet er den Forschungsbereich „Transformative Kapazitäten“ am Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung in Dresden.

 

Dieser Text stammt aus dem Online-Magazin STANDPUNKTE 01./02./03.2024 zum Themenschwerpunkt “Öffentlicher Raum”

 

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