Das Verhältnis des motorisierten Verkehrs zum Fußgänger- und Radverkehr ist in München seit 1945 schief. In den 1960ern wurden die meisten Radwege den Motorisierten geopfert, und vor 40 Jahren erhielten die Fußgänger eine Fußgängerzone (S. 14). Dafür mussten sie im Rest der Stadt zurückstecken – unter die Erde bei Querungen und auf den Gehwegen, oft neben Radlern, Schaltkästen, Streusandkästen und etlichem öffentlichen Mobiliar. Gut, der Durchgangsverkehr wurde auf Hauptstraßen gebündelt und manche Fußgängerunterführung mit einer Überführung ergänzt. Aber im Prinzip ist der Verkehr auch in seiner ruhenden Form unantastbar. Tempo 30 in lärmgeplagten Abschnitten darf nicht einmal untersucht werden, und Begegnungszonen bleiben tabu. Das ist bei der Umgestaltung der Sendlinger Straße so, die nur zur Hälfte für die Fußgänger frei gemacht wird und besonders bei der Planung der fußgängerfreundlichen Umgestaltung des Tals. Sogar die Geschäftsleute kritisieren den mangelnden Mut der Stadtväter und –mütter zugunsten der Fußgänger (S. 18). Mit der Fußgängerzone, die heuer 40 Jahre alt wird, werden wir uns in der August-Ausgabe ausführlich beschäftigen.
Die Euphorie für das technische Zeitalter zeigt sich auch in der Art der Pflege des kulturellen Erbes in Form seiner baulichen Hinterlassenschaft. Der Putz wurde von den Häusern abgeschlagen, dafür gab es in den 1950er Jahren sogar Zuschüsse. Aber nicht nur Wohnhäuser wurden „purifiziert“, d.h. nackt präsentiert, öffentliche Gebäude von höchstem Rang wie die im Krieg leicht beschädigte Neue Pinakothek wurden sogar abgerissen (S. 12). Heute zieht sich der Denkmalschutz auf die Erhaltung des unveränderten Originals zurück, was sicher akademischen Beifall, aber Entsetzen bei den Münchenliebhabern auslöst.
Völlig geschichtsvergessen zeigt sich die Einebnung unserer jüngsten Demokratiegeschichte am Beispiel des Amerikahauses. Der Beifall von rechts ertönt vernehmlich, und dieser Bocksgesang wird lauter. Wohin also zeigt das Signal der Staatsregierung? (S. 8) München verabschiedet sich von der lebendigen Erinnerung, mit dem NS-Dokumentationszentrum bereitet es die deutsche Katastrophe akribisch auf, als Geschichtsstoff (S. 3). Diejenigen, deren Familiengeschichte verbunden ist mit Mord und Erniedrigung, deren lebendige Erfahrung es ist, dass sie bei Bedrohung im Zweifelsfall nur Schulterzucken in der Nachbarschaft ernten, wo Solidarität nötig wäre, werden an den Rand gedrängt. Die Selbstgewissheit, dass wir ein nächstes Mal mutiger wären, wenn der Staat versagt, trügt. München hat mit seiner Entscheidung zu den Stolpersteinen gezeigt, dass gegenüber den Erinnerungsverletzten eine Grenze gezogen wird, die entschlossen bewacht wird.
Fußgängerzone feiert 40-jährigen Geburtstag
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