| Michael Schneider |

Der Tag ist als Schicksalstag in die Münchner Stadtgeschichte eingegangen. Es ist der 23. Juni 1996. Noch nie davon gehört? An diesem Tag wurde der Umbau Münchens zur autogerechten Stadt beschlossen. Basisdemokratisch, nicht als obskure Verwaltungsplanung hinter den zugezogenen Jalousien des Städtischen Hochhauses in der Blumenstraße. An diesem Sonntag vor mehr als einem Vierteljahrhundert stimmten 50,7 Prozent der Münchner für den Text des Bürgerbegehrens „Drei Tunnels braucht der Mittlere Ring“. Etwa 1.000 abgegebene Stimmen machten den Unterschied aus. Es war einer der ersten Bürgerentscheide nach der noch frischen Verfassungsänderung von 1995, die den Weg frei machte für basisdemokratische Abstimmungen in den bayerischen Städten, Märkten und Gemeinden. Es war auch der bis heute teuerste Bürgerentscheid im Freistaat: 903 Millionen Euro Investitionskosten schlagen zu Buche für den Bau von Petueltunnel (2002), Richard-Strauss-Tunnel (2009) und Luise-Kiesselbach-Tunnel (2015) – und es war der Bürgerentscheid, der München weit über Geld hinaus bis heute am teuersten zu stehen kommt.

Doppelt hält besser

Konflikte um den begrenzten Raum in der Stadt sollen mit dem Wechsel der Ebene entschärft, besser noch gelöst werden, versprechen die Befürworter. Die Autos sollen in den Tunnel, damit es weniger Lärm für die Anwohner gibt, weniger Feinstaub, weniger Stickoxide. Nun zur Realität auf der Richard-Strauss-Straße, der Garmischer Straße und dem westlichen Petuelring: die Straße ist immer noch da, sie wurde einfach aufgedoppelt. Was aber vor und nach dem Tunnelbau den Lärm verursacht, das Kraftfahrzeug, bleibt unangetastet. Eine Straße, die für ihre Bewohner zur Belastung wird, ist schlicht und ergreifend falsch genutzt. Die Autos müssen nicht unter die Erde, die Autos müssen von der Straße.

Tunnel als Scheinlösung

Jeder Tunnel liefert die Rechtfertigung für seinen Fortbestand. Einmal gebaut, gilt er als gesetzt. Gab es vor der Modernisierung des Altstadtringtunnels eine ernsthafte Diskussion darüber, das große Loch einfach zuzuschütten? Nicht erinnerlich, diskutiert wurden dann nur noch verschiedene Varianten, Grundsatzfragen wurden nicht gestellt. Jeder Tunnel liefert dazu auch noch die Rechtfertigung, weitere Tunnel zu bauen. Nicht drei, sondern vier, fünf oder sechs Tunnel braucht der Mittlere Ring, an der Landshuter Allee, der Tegernseer Landstraße oder dem Isarring. Die Argumente klingen seit 1996 altvertraut: Der Lärm! Der Feinstaub! Die Stickoxide! Ja, und überhaupt: Stadtreparatur. Jeder Tunnel wirkt wie ein großer Staubsauger, beschleunigt und verdichtet den Verkehr auf den zuführenden Straßen, verkürzt Reisezeiten, macht Autofahren erst wieder so richtig schön – für kurze Zeit jedenfalls. Tunnel sind der beste Beweis dafür, dass sich jedes Angebot seine Nachfrage selbst schafft. Dafür ist der Trappentreutunnel das beste Beispiel. Vor dem Bau schoben sich täglich etwa 60.000 Kraftfahrzeuge über die Trappentreustraße, dreißig Jahre später sind es 120.000 Kraftfahrzeuge im Tunnel unter der Straße. Der einzige Tunnel in München, der übrigens wieder abgebaut wurde, war nach 1993 der Trambahntunnel, der von der Belgradstraße aus unter dem Petuelring zur Keferloherstraße führte. Er wurde, notabene, abgebaut, weil er dem Bau des Petueltunnels im Wege stand.

Alles hat ein Ende…

Jeder Tunnel hat einen Anfang und ein Ende, was an sich kein Problem wäre, lägen Anfang und Ende unter der Erde und störten die städtebauliche Entwicklung nicht. Leider ist es noch viel schlimmer, wie sich am Richard-Strauss-Tunnel oder am Altstadtringtunnel bestaunen lässt. Die zahlreichen Abzweigungen, Ein- und Ausfahrten machen den Tunnel zur vielarmigen Krake, deren Arme alles Leben dazwischen zum Erlahmen bringen. Genau das, welch eine List der Geschichte, wurde dem geplanten Landshuter-Allee-Tunnel zum Verhängnis: vor lauter Ein- und Ausfahrten zu den kreuzenden Hauptstraßen hätte es eigentlich gar keinen Tunnel mehr gegeben. Schutz der Anwohner vor Lärm, Feinstaub, Stickoxiden? Ein Totalausfall.

Fußgänger im Richard-Strauss-Tunnel

Fußgänger im Richard-Strauss-Tunnel

Tunnel-Evolution

Die Flexibilität von Tunnelbauwerken liegt bei exakt null. Sie sind unevolutionäre Bauwerke, sie zementieren die Art und Weise, wie wir uns noch in Jahrzehnten unter der Stadt bewegen sollen. Die begradigten, kanalisierten, verrohrten Flüsse wie die Isar wurden aus ihrem Betonbett befreit, Menschen sollen aber in solche Röhren gezwungen werden? Unnatürlich ist das, im Sinne des Wortes. Leben ist Veränderung, der Verkehrsweg, der heute wichtig ist, wird morgen von Efeu überwuchert nur noch von Archäologen aufgespürt. Durchaus sympathisch, dass der erste S-Bahn-Tunnel von 1938 in der Lindwurmstraße nach dem Zweiten Weltkrieg zur Schwammerlzucht diente, eine gelungene Umnutzung, aber eher selten.

Tunnel und Stadtentwicklung

Jahrzehntelang hat sich die Politik um eine Prioritätensetzung gedrückt, der Raum ist biegbar, aber für alle gleichzeitig nutzbar will er einfach nicht werden. Das erkannte auch Karl Valentin, der schon Urbanist war, als es den Begriff noch gar nicht gab, und daraufhin Visionär wurde. Verkehrsteilnehmer nutzen den vorhandenen Raum zeitlich gestaffelt (Staffelstraßennutzungsordnung):
„Mein Vorschlag ist folgender, und jeder Irrsinnige wird mir recht geben. Der Verkehr soll folgendermaßen eingeteilt werden. Und zwar täglich von 7 bis 8 Uhr Personenautos, 8 bis 9 Uhr Geschäftsautos, 9 bis 10 Uhr Straßenbahnen, 10 bis 11 Uhr Omnibusse, 11 bis 12 Uhr die Feuerwehr, 12 bis 1 Uhr die Radfahrer, 1 bis 2 Uhr die Fußgänger.“
Dass die Verkehrsfläche vom Marienplatz einmal mit vier Untergeschossen verfünffacht werden würde, konnte der Visionär aus der Au noch nicht ahnen. Heute wird die 1. S-Bahn-Stammstrecke aus dem Jahr 1972 von vielen als große Tat gepriesen. Wie jedes Verkehrsbauwerk prägt es die städtebauliche Entwicklung. Gewiss hätte sich die Region München ohne S-Bahn und ohne Verbindung von Hauptbahnhof und Ostbahnhof auch entwickelt, aber polyzentrisch, ausgewogener, vielleicht mit einer Ringbahn, mit geringeren Pendeldistanzen, kürzeren Reisezeiten, mehr Lebensqualität. Statt lauter Schlafstädten lauter blühende kleine Metropolen. Ohne astronomische Mieten in der Münchner Innenstadt für Gewerbe und Wohnen, ohne Einkaufsmeilenmonokultur. Hätte es eine Ödnis wie auf der Frankfurter Zeil, in der Stuttgarter Königstraße, in der Münchner Neuhauser Straße ohne S-Bahn jemals geben können? Unten die S-Bahn, oben die Konsumautobahn. Sicher nicht zufällig zählen auch die Einzelhändler in der Münchner Innenstadt zu den vehementesten Verfechtern der 2. S-Bahn-Stammstrecke, und es ist sicher genauso kein Zufall, dass sich die riesige Baugrube am Marienhof auf der ehemals einzigen Fläche der Münchner Innenstadt ohne Konsumzwang ausbreitet. Die 2. S-Bahn-Stammstrecke, sollte sie jemals fertig werden, löst dann natürlich ebenso ihrerseits städtebauliche Entwicklungen aus. Der Tunnelstaubsauger ist dann aber noch größer, sein Sog reicht dann nach Landshut, Augsburg, Buchloe, Wasserburg.

Tunnel und Ökologie

Nicht nur für die Stadtentwicklung, auch ökologisch und finanziell sind Tunnel ein Desaster. Beim Bau der Tunnel werden riesige Mengen Zement und Baustahl benötigt, beide mit einer miserablen CO2-Bilanz. Weltweit sorgt die Zementherstellung für acht Prozent der klimaschädlichen Treibhausgas-Emissionen. Bei der Herstellung von einer Tonne Zement werden 600 kg CO2 freigesetzt. Ist der Tunnel einmal gebaut, will er betrieben werden, entwässert, gereinigt, belichtet, belüftet. Es entsteht das, was man aus dem Ruhrgebietsbergbau als Ewigkeitskosten kennt. Zu besonderer Berühmtheit hat es die Belüftung des S-Bahn-Tunnels zum Berliner Großflughafen BER gebracht. Da entstanden die Ewigkeitskosten schon vor der Eröffnung. Der S-Bahn-Tunnel war fertig, lang vor dem BER. Damit der Tunnel nicht durch die stehende, feuchte Luft verschimmelt, mussten Geister-S-Bahnen ohne Fahrgäste durch die Röhre geschickt werden, um einen Sog zu erzeugen.
Oben bleiben
München kann sich solche Tunnel nicht leisten, nicht finanziell, nicht städtebaulich, gesellschaftlich auch nicht. Die vielfältigen Transformationen im Verkehr und in der Mobilität, gern als Wende bezeichnet, wo sie eher Problemverschiebungen bedeuten, haben gemeinsam, dass sie Konflikte schonungslos offenlegen. Raum ist endlich, der städtische ganz besonders. Jeder Quadratmeter ist hart umkämpft. Ohne Zweifel, es tut weh, wenn Privilegien aufgebrochen, Flächen umverteilt und Claims neu abgesteckt werden. Wir müssen diese Konflikte aushalten, wenn wir gemeinsam zu einer guten, zukunftsfesten Lösung finden wollen. Dazu zählt aber, auf dem Spielfeld zu bleiben, auch wenn es weh tut. Unser Spielfeld ist und bleibt die Straße.

Autor:
Michael Schneider ist Politikwissenschaftler (M. A.) und Dipl.-Verwaltungswirt (FH). Er ist seit Oktober 2021 stellvertretender Programmausschuss-Vorsitzender des Münchner Forums. Er arbeitet im Landratsamt München im Fachbereich Mobilität und verkehrliche Infrastruktur.

 

Dieser Text stammt aus dem Online-Magazin STANDPUNKTE 07./08./09.2022 zum Themenschwerpunkt “Drunter und/oder drüber? Straßentunnels in München”

 

Bildquellen:

  • Straßentunnel: Michael Schneider
  • Fußgänger im Richard-Strauss-Tunnel: Michael Schneider
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