Vielfalt des Gehens für die Mobilitätswende nutzen

| Rolf Monheim |

Die Strategien für eine nachhaltige Verkehrswende setzen vorrangig auf Verbesserungen bei Öffentlichem Verkehr (ÖV) und Fahrradinfrastruktur (pull) sowie Restriktionen beim Autoverkehr (push). Demgegenüber werden die Potenziale des Fußgängerverkehrs kaum thematisiert. Dies ist insofern erstaunlich, als das Gehen im städtischen Alltag allgegenwärtig ist und entscheidend zur Belebung der Stadt und insbesondere ihrer öffentlichen Räume beiträgt. Dies gilt auch für die Kombination mit öffentlichen Verkehrsmitteln, bei denen man sowohl zur Haltestelle als am Ziel stets Wege zu Fuß zurücklegen muss. Auch Wege mit dem Auto beginnen und enden vielfach mit Wegen zu Fuß.

Neben der Mobilitätsfunktion spielt das Gehen eine wichtige Rolle für die emotionale und soziale Aneignung des städtischen Umfeldes, wobei der Aufenthalt einen wichtigen Bestandteil bildet – gleichsam der „ruhende“ Fußgänger. Dies wurde zuletzt im Zusammenhang mit den durch die Corona-Pandemie erforderlichen Einschänkungen deutlich. Optionen zur Mobilisierung von Aufenthaltspotenzialen konnten 2019/2020 im Rahmen von „Sommerstraßen“ als „Pop-Up-Fußgängerzonen“ aufgezeigt werden.

Temporäre Sommerstraßen – die Stadt München will aufgrund der Corona-Pandemie im Sommer mehr Platz für Fußgänger*innen schaffen.

Temporäre Sommerstraßen – die Stadt München will aufgrund der Corona-Pandemie im Sommer mehr Platz für Fußgänger*innen schaffen.

 

Bisher waren vor allen die Fußgängerzonen Lernorte für die Aneignung öffentlicher Räume im Rahmen eines genussvollen Gehens und Verweilens, teilweise auch umgestaltete verkehrsberuhigte Bereiche. Für die Mobilitätswende müssen diese Lehren auf die gesamte Stadt übertragen werden, da nur so der bedauerliche Rückgang des Gehens als Hauptverkehrmittel im Mobilitätsalltag umgekehrt werden kann: Sein Anteil betrug in München 2000 noch 28 Prozent, sank jedoch bis 2017 auf 24 Prozent (Erhebung Mobilität in Deutschland MID). Darüber hinaus entstehen jedoch insbesondere im Zusammenhnag mit dem öffentlichen Verkehr (21% bzw. 24% der Wege)  durch die Fußwegetappen zur Haltestelle und nach Fahrtende zum Ziel zahlreiche weitere Fußwege. Es wird also wesentlich mehr gegangen, als die üblichen Statistiken erkennen lassen!

Die Besinnung auf den Fußgängerverkehr nahm bereits in den 1970er Jahren einen ersten Aufschwung. Beispiele dafür hat der Münchner Verleger Paulhans Peters 1977 in einem Band „Fußgänger-stadt“ zusammengestellt. Darin wird u.a. eine Schweizer Aktion „Fröhlicher Sommer“ vorgestellt (ein Vorläufer der „Sommerstraßen“) und zeigt der Verfasser dieses Beitrags Entwicklungsperspektiven „Von der Fußgängerstraße zur Fußgängerstadt“ sowie, ausgehend vom Prinzip „Koexistenz als Verkehrssystem“, am Beispiel Bonn das „Modell einer Fußgängerstadt“. Grundlegende Einsichten für die Bedeutung der Gestaltung öffentlicher Räume für den Aufenthalt und das Gehen lieferte 1971 der Kopenhagener Architekt und Stadtplaner Jan Gehl mit seinem Buch „Leben zwischen Häusern“ (das zunächst dänische Buch erschien 1986 auf Englisch und 2012 auf Deutsch).

Unter den vielfältigen Ursachen für den Rückgang der Fußverkehrsanteile bei der Verkehrsmittelwahl dürften die Abnahme von Zielen im Nahbereich sowie die Verschlechterung der Bedingungen für das Gehen durch die Autoorientierung der Stadtgestaltung besonders wirksam sein. Während der ungehinderte Ablauf des MIV weitgehend Planungsmaxime ist, stoßen Fußgänger auf vielfältige Behinderungen.

Hinzu kommt lange eine geringe gesellschaftliche Wertschätzung der vielfältigen Vorteile des Gehens. Der Fahrradhype hat gezeigt, wie wichtig die kulturelle Positionierung einer Verkehrsart ist (so wie vorher und bei vielen immer noch die mentale Autofixierung). Gegenstrategien müssen deshalb auch in mehreren Bereichen ansetzen.

Bei den Nutzungen muss der Tendenz zur Maßstabsvergröberung durch immer größere Einheiten entgegengewirkt und eher Dezentralisierung gefördert werden (ein Risiko bildet aktuell die Gefahr der Schließung kleinerer Unternehmen durch Insolvenzen infolge der Corona-Pandemie). Die Förderung von Home-Office könnte hier interessante Chancen einer stärkeren Quartiersorientierung der Beschäftigten eröffnen.

Bei den Bedingungen für das Gehen muss für eine fußgängerfreundliche Infrastruktur gesorgt werden: einladend breite, nicht durch parkende Autos und Einbauten entwertete Gehwege, Überquerungshilfen, Orientierungssysteme, Grün als emotionaler „Aufheller“ sowie Schutz vor Lärm, Abgasen und sommerlicher Überhitzung, Sicherheitsgefühl.

Darüber hinaus müssen Fußgänger emotional „an der Hand genommen werden“. Dazu können „Influencer“ aus dem öffentlichen und privaten Bereich dienen. Alles, was die Straße belebt, fördert das Wohlbefinden beim Gehen (Schaufenster und Auslagen von Geschäften, Außengastronomie, freie Sitzgelegenheiten, Grüninseln, Baumalleen). Der Erlebnis-wert des Gehens kann dadurch gesteigert werden, dass man veranschaulicht, was es entlang des Weges zu sehen gibt (ein Beispiel ist eine aktuelle Serie der Süddeutschen Zeitung mit Rundgängen zu weniger bekannten Sehenswürdigkeiten in München). Die wahrgenommenen Entfernungen können durch eine abwechlungsreich gestaltete Wegführung verringert werden (dies erhöht auch die Einzugsbereiche von ÖV-Haltestellen).

Die Vorausetzungen für die Erschließung des Potenzials des Gehens sind in München derzeit im Prinzip gut. Bei einer von der Stadt im Mai 2019 im Hinblick auf die „Modellstadt München 2030“ organisierten Mobilitätswerkstatt nahmen Vorschläge zur Stärkung der „aktiven Mobilität“ und insbesondere des Gehens einen erheblichen Raum ein und fanden breite Zustimmung. Vorschläge der „Innzell-Initiative“ zu Modellstadt München 2030 betonten 2018 ebenfalls die Notwendigkeit, öffentliche Räume neu aufzuteilen und zu gestalten sowie Nahmobilität und aktive Mobilität zu fördern. Wichtige Optionen zeigt auch das als Pendant zur „Langfristigen Siedlungsentwicklung“ erstellte Konzept „Freiraum M 2030“. Das Schlüsselprojekt „Freiraumquartierskonzept Innenstadt“ fordert ein verbindendes Freiraumsystem, bei dem angenehme Spazier- und Flanierwege in der Altstadt und in die angrenzenden Stadtviertel besonders wichtig sind (Hutter-von Knorring, Standpunkte 12.2020/1.2021: 10). Und in der Koalitionsvereinbarung der neuen Stadtregierung heißt es im Kapitel Klimafreundliche Mobilität zu Fußverkehr und öffentlichem Raum: „Jedes Jahr wollen wir gemeinsam mit der Bürgerschaft mehrere Plätze und Straßenräume dauerhaft lebenswert gestalten“.

Die Umsetzung erfordert ein Zusammenwirken von Verwaltung, Politik und Bürgerschaft. Dabei geht es einerseits um Einzelmaßnahmen, die Potenziale exemplarisch veranschaulichen (die Sommerstraßen und Parklets sind ein Beispiel), andererseits um übergreifende Konzepte. Ein Beipiel hierfür ist die Stadt Leipzig. Diese hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2030 eine international führende fußgängerfreundliche Stadt zu werden und bereits 1997 ein Konzept für den Fußgängerverkehr in Leipzig erarbeitet. Zur Umsetzung des 2003 im Stadtentwicklungsplan Verkehr und öffentlicher Raum verankerten Konzeptes wurde 2018 ein Fußverkehrsverantwortlicher eingestellt. 2019 erarbeitete der Verfasser gemeinsam mit Prof. Heiner Monheim im Auftrag der Stadt ein System von „Flaniermeilen“ für die erweiterte Innenstadt und konkretisierte dies an zwei Modellmeilen. Dabei zeigte sich, dass es für die wahrnehmungsmäßige Verankerung dieser Geh-Achsen hilfreich ist, als Etappenziele Plätze zu entwickeln bzw. aufzuwerten.

Gesamtsystem der Leipziger Flaniermeilen

Gesamtsystem der Leipziger Flaniermeilen

 

Plätze sind ein klassisches Element der Stadtbaukunst, gerade auch im Zuge des gründerzeitlichen Ausbaus der die historischen Altstädte umgebenden Bereiche. Sie prägen den Charakter der neuen Quartiere. Auch München verfügt hier über zahlreiche Beispiele. Bei einigen dominiert leider immer noch die Verkehrsfunktion (Pkw & ÖV), andere beherbergen wichtige Nahversorgungsfunktionen und beliebte Quartiersmärkte. Professor Regine Keller hat am TUM-Zentrum Stadtstruktur und Klimaanpassung mit ihren Studenten im Auftrag des Bayerischen Staatsministeriums für Umwelt- und Verbraucherfragen 100 Münchner Plätze untersucht (Standpunkte 12.2020/1.2012: 17-23).

In Erkenntnis der besonderen Funktion von Plätzen hat die Stadt Wien bereits 1993 eine umfassende Bestandsaufnahme von 31 über 23 Bezirke verteilten Plätzen unter der Überschrift „Stadt-RAUM erleben“ vorgenommen. Darin werden 150 seit 1974 verwirklichte stadträumliche Kleinprojekte dokumentiert. Diese „Öko-Kleinzellen“ bereichern wesentlich das Wohnumfeld der ansässigen Bevölkerung. Eine Besonderheit ist die nach langen Kontroversen umgewandelte Haupteinkaufsstraße Kärntner Straße: In dem verkehrsberuhigten Bereich kann man die Potentiale einer Koexistenz aller Verkehrsarten (einschließlich Stadtbussen) bei wechselseitiger Rücksichtnahme beobachten.

Die Förderung des Gehens im Sinne der Fortbewegung wie des Aufenthaltes bildet insofern einen hervorragenden Beitrag zur Mobilitätswende, als es bei dieser nicht nur um Fortbewegung geht, sondern insgesamt um nachhaltige urbane Qualitäten. Sie bildet nicht in erster Linie eine verkehrstechnische Aufgabe, sondern eine kulturelle Herausforderung, deren Bewältigung eine breite Koalition Handlungswilliger erfordert.

 

Autor:
Professor i.R. Dr. Rolf Monheim, Universität Bayreuth; Arbeitsschwerpunkte: Innenstädte (Nutzungen, Verkehrserschließung, Wahrnehmung und Bewertung), Mobilität (Fußgängerverkehr)

 

Dieser Text stammt aus dem Online-Magazin STANDPUNKTE 02./03.2021 zum Themenschwerpunkt “Plätze – Passagen – Arkaden”.

 

Zum Weiterlesen:

Jan Gehl: Leben zwischen Häusern. jovis Verlag GmbH, Berlin 2012. (Erstveröffentlichung: Livet mellem husene, Copenhagen 1971).

Heiner Monheim, Rolf Monheim: Flaniermeilen als Instrument einer Fußverkehrsstrategie – das Beispiel Leipzig. Mobilogisch! 1/20.

Paulhans Peters (Hg.): Fußgängerstadt. Fußgängergerechte Stadtplanung und Stadtgestaltung. Callwey-Verlag, München 1977.

Die Standpunkte-Ausgabe 12.2020/1.2021 „München und sein urbanes Grün“ enthält mehrere als Ergänzung nützliche Beiträge. Beim Fachverband Fußverkehr Deutschland FUSS e.V. sind umfangreiche Informationen verfügbar (https://www.fuss-ev.de ). Webseite „Wien zu Fuß“ der Mobilitätsagentur Wien GmbH (www.wienzufuss.at ;  www.mobilitaetsagentur.at )

Rolf Monheim: Faszination Gehen!? Handlungsbedarf für die Münchner Innenstadt In: Standpunkte 09.2013 zu beziehen über die Geschäftsstelle des Münchner Forums

 

Bildquellen:

  • Sendlingerstraße vor Fußgängerzone: Münchner Forum
  • Temporäre Sommerstraßen – die Stadt München will aufgrund der Corona-Pandemie im Sommer mehr Platz für Fußgänger*innen schaffen.: LHM
  • Gesamtsystem der Leipziger Flaniermeilen: R. Monheim
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