Hast Du das verdient?
| Gisela Krupski |
Vor nunmehr 26 Jahren zog ich in den Stadtteil Fürstenried West, ein heute 60 Jahre altes Wohngebiet am Stadtrand von München.
„Plattenbausiedlung“ unkte meine Familie, die zuvor mit mir aus dem edleren Stadtteil Lehel in Münchens Speckgürtel gezogen war. Damals noch ein völlig unpolitischer Mensch, war ich einfach nur froh, mit unserer Kleinfamilie eine günstige Wohnung mieten zu können. Schnell entdeckte ich dann, wie schön das viele Grün in der Siedlung eingewachsen war, mit vielen Baumgruppen zwischen den vielen Achtstöckern mit Waschbetonfassade. Ideal waren die Grünanlagen um die Häuser, wo die Kinder sicher spielen konnten, mit Rufkontakt zur Wohnung. Auch alle Arten von Stadtvögeln konnte ich als Biologin begeistert beobachten. Jahrelang gab es die Sicherheit: Eine Hochhaussiedlung bleibt so, weil ja schon soviel in die Höhe gebaut ist und damit große Grünflächen erforderlich sind. Eigentümerin der rund 17 ha großen Hochhaussiedlung, bestehend aus 15 Achtstöckern und 19 Dreistöckern, ist die Bayerische Versorgungskammer (BVK).
Am 18. November 2015 dann der Brief an alle Bewohner: „Die Landeshauptstadt München unterstützt das Vorhaben der BVK […] Die Identität der Siedlung soll gewürdigt und bestehende Freiflächen, Wege und Straßenräume aufgewertet werden. […] Die bestehenden Wohnungen bleiben erhalten und werden nicht umgebaut […].“ Bald wurde noch eine „zusätzliche Bebauung“ angekündigt.
Dazu Kurt Grünberger, Vorsitzender von „Pro-Fürstenried e. V. – der Verein für Lebensqualität in Fürstenried“: „Wir haben hier etwa 1.500 Bestandswohnungen. Dazu kommen jetzt 660 neue Wohnungen. Aber es gilt das Schutzziel für die Altbewohner. Wenn ein reines Neubaugebiet vorliegt, kann man das anders sehen, weil jeder neue Bewohner genau weiß, wo er hinzieht. Aber so werden die Altbewohner in ihren Grundrechten eingeschränkt. Bei einer verantwortlichen und sozial verträglichen Planung kämen vermutlich deutlich weniger als die Hälfte neuer Wohnungen heraus.“
Für die Bewohner ist die Planung eine Zwangsmaßnahme, da die wenigsten wegziehen können.
Bürgerprotest
Der Aufruhr war groß in der Siedlung Anfang 2016, und wir Bürger beschlossen, deutlich mitzureden. Das waren der Start der Bürgerinitiative (BI) „Pro Fürstenried e. V.“ und auch der Ursprung meiner bürger-politischen Aktivitäten: Ich kontaktierte zahlreiche andere BIs in München, die vor ähnlichen Nachverdichtungsproblemen standen, gründete einen münchenweiten Aktivenkreis, aus dem im Jahr 2019 die Wählergruppe „München-Liste“ hervorging, und mit Dirk Höpner zog einer aus den BIs in den Stadtrat ein. Knapp zwei Jahre später gründeten wir den BMBI e. V. (Bund Münchener Bürgerinitiativen).
Wir Fürstenrieder versuchten ab Februar 2016 unermüdlich, uns in die Planung einzubringen und den zuständigen Personen im Bezirk (BA 19), bei der BVK und den Stadträten die Situation in der Siedlung darzustellen, siehe https://www.pro-fuerstenried.de/chronologischer-ablauf/.
Im Bauleitplanverfahren wurden Anträge und Schreiben von uns Anwohnern beschönigend übergangen. Sogar im Bezirksausschuss BA 19 war man mehrheitlich für diese Nachverdichtung – ja, die grün-rote Mehrheit dort lobte den Investor für die geplante „Aufwertung“. Die Stellungnahme des Bund Naturschutz, dass diese Bebauungspläne zu massiv für die Siedlung sind, wurde abgeheftet, ebenso die Einwände der kleinen Nachbargemeinde Neuried.
All unsere Demos, Führungen für mehrere Stadträte durch die Siedlung, Presseartikel zur befürchteten Ghettoisierung der Stadtrand-Siedlung, die wir über Jahre durchführten, interessierten die große Mehrheit der Stadträte nicht.
Kurt Grünberger: „Es gab Bürgerversammlungen, aber eine echte Bürgerbeteiligung war das nicht. Das waren nur Show-Veranstaltungen. Die Bürgerbeteiligung ist ein Prozess, der im Bundesbaugesetz vorgeschrieben ist. Formell wurde das eingehalten, und Bürger brachten ihre Einwände vor, wo diese dann auch immer gelandet sind. Geändert hat sich nichts. Die BVK ist immer ihren Weg gegangen und hatte schon immer das Ziel, eine möglichst große Masse an Wohnungen zu errichten.“
Stadtratsbeschlüsse und Baumfällung
Der Satzungsbeschluss (https://risi.muenchen.de/risi/sitzungsvorlage/detail/7163730) zur Bebauung im Stadtrat erfolgte im Jahr 2022. Aktuell sind neun Aufstockungen fast fertig, und der erste Achtzehnstöcker zählt schon zehn Stockwerke. Auf der Straßenseite gegenüber läuft der Abriss eines intakten Wohngebäudes, um Platz für den zweiten Achtzehnstöcker zu schaffen.
Im Jahr 2016 konnte ich durch sachliche Kritik noch die Korrektur des Baumbestandsplans – die deutlich verbesserte Vitalitäts-Bewertung – erreichen (https://www.pro-fuerstenried.de/2016/10/bvk-veroeffentlicht-gruenere-baumkarte/). Genützt hat das den 184 Großbäumen, die „weg“ müssen, nichts.
Im Satzungsbeschluss findet man teils hanebüchene Begründungen: „S75 Die städtebauliche Setzung […] betrifft eine wertvolle Laubgehölzgruppe aus ca. 10 großen Laubbäumen […] Dieser punktuelle Eingriff mit den unvermeidbaren Auswirkungen auf den Baumbestand vermeidet den Flächenverbrauch und Gehölzverlust an anderer Stelle im Planungsgebiet“ und großzügige Versprechungen für Nachpflanzungen.
Die Klage
Uns Anwohnern blieb schließlich nur noch der Klageweg. Eine angestrebte Normenkontrollklage war nicht möglich – also blieb eine Popularklage.
Kurt Grünberger: „Es geht um Grundrechte, hier gesunde Wohnverhältnisse, wie
- Verschattung von Wohnbereichen, da gibt es ungefähr ein Dutzend Stellen.
- Abstandregel heißt Wandhöhe ist gleich Abstand. Davon ist man weit entfernt, es geht nur noch um die rechtlich definierte Verschattung.
- Abbruch eines gesunden Wohngebäudes, Druck auf Bewohner.
- Eingriff ins Landschaftsschutzgebiet für die Schaffung öffentlicher Stellplätze. Da hat die Stadt in ihrer Stellungnahme tatsächlich behauptet, dass da keine Bäume stehen, obwohl sie jeder sehen kann.
- Der Stellplatzschlüssel für PKW mit 0,53 wurde rückgerechnet auf den Bestand. Das ist absurd. Dann ergibt sich 0,24 pro Wohnung, also weniger als ein Viertel Auto pro Wohnung.“
Die Popularklage wurde im Februar 2024 vom Verfassungsgerichtshof bestätigt und zur Stellungnahme an die Landeshauptstadt München, den Landtag und die Staatsregierung weitergeleitet. Aktuell liegt noch keine Antwort des Gerichts vor.
Erste und zweite Bauphase
Im Februar 2023 begann die erste Bauphase. Zuerst rückten die Baumfäller an – bis heute wurden schon etwa die Hälfte der 184 „zu fällenden“ Großbäume vernichtet.
Bei unserer ersten Demo hatte jemand ein Plakat dabei mit dem Text „Diese Nachverdichtung ist menschenverachtend“. Damals hielt ich diese Behauptung für überzogen. Mittlerweile gibt es Beispiele:
- bei den Aufstockungen: Die Erdgeschoss-Bewohner wurden völlig überrascht, als eines Morgens Fälltrupps ihre Sträucher und kleinen Bäume rund ums Haus rodeten (https://www.pro-fuerstenried.de/2023/02/kahlschlag-im-viertel/).
- bei Balkonen: Das Schlimmste ist meiner Meinung nach die Zumutung für Menschen in den Aufstockungshäusern. Ihre Balkone hat man vor z. T. mehr als einem Jahr abgesägt (spätere Modernisierung!) – ringsherum haben die Altbewohner Gerüste und Baustellenlärm. Die Aufstockungswohnungen darüber sind mit Balkonen vielfach schon fertig! An zwei Achtstöcker wird über die komplette Höhe direkt angebaut werden.
Sehenswertes Interview mit Kurt Grünberger: https://www.pro-fuerstenried.de/2024/09/wonemuc-wem-gehoert-muenchen/
Fazit
Fährt oder läuft man durch die Appenzeller-Straßen-Gegend, überkommt einen aktuell das Gruseln, und wir wissen ja, dass diese Riesenbaustelle noch mindestens zehn Jahre andauern wird.
Die erste große Nachverdichtungsmaßnahme in einer Hochhaussiedlung in München ist – wie ich meine – ein schauriges Beispiel für das Zubetonieren der Münchner Stadtränder, die, statt auch in Zukunft eine ruhige Wohnzone – bis hin zum (schwindenden) Grüngürtel zu bieten, einer möglichen Ghettoisierung geopfert werden – übertriebene „Urbanisierung“ unserer schönen Heimatstadt München.
Die Autorin:
Gisela Krupski, Dr. rer. nat., Dipl.-Biologin, Hobby-Ornithologin; geb. in München im Lehel, Schule in Bogenhausen, Promotion im heutigen Helmholtz-Zentrum, Mü.-Neuherberg. Gründungs-Mitglied beim Bund Münchener Bürgerinitiativen e.V., Mitglied im AK Baumschutz des BN Mü., Mitglied im Programmausschuss des Münchner Forums.
Dieser Text stammt aus dem Online-Magazin STANDPUNKTE 01./02./03.2025 Stadt und Dichte
Bildquellen:
- Appenzeller Straße ecke Bellinzonastraße: Gisela Krupski
- Fällungen im Februar 2023 in der Appenzellerstr 97: Gisela Krupski
- Aufstockung mit oben fertigen Balkonenin der Bellinzonastr im Okt 2024: Gisela Krupski