| Michael Hardi |
Arkaden, Passagen und Plätze sind gestalterische Grundelemente des stadtplanerischen Werkzeugkastens. Auch in der Münchner Altstadt sind diese identitätsstiftenden Strukturen wesentlicher Bestandteil des Stadt- und Freiraums und tragen maßgeblich zur attraktiven und identitätsstiftenden Atmosphäre bei. In der Innenstadt übernehmen diese wichtige Funktionen für die Aufenthalts- und Lebensqualität. Und sie bilden die emotionalen Anker für die Münchner*innen und die Besucher*innen gleichermaßen. Die Wirkungsweise dieser Gestaltungen berührt in den meisten Fällen die Emotion der Menschen.
Neben dem Aspekt der individuellen Gestaltung der einzelnen Elemente sorgt insbesondere die abwechslungsreiche Sequenz, beispielsweise mit gezielten Verengungen, großzügigen Aufweitungen oder unerwarteten Durchwegungen für den besonderen Charme der Altstadt. Die Süddeutsche Zeitung schildert in einem Artikel der Reihe „Streifzüge durch die Stadt“ vom 4. Januar 2021, dass München zwar weder Hamburgs überdachte Passagen noch die von Arkaden gesäumten historischen Innenhöfe von Florenz und nicht die „Ville Souterraine“ der kanadische Metropole Montreal hätte, jedoch von all dem etwas! In München herrscht nicht das eine prägende Gestaltungselement vor, Münchens Altstadt lebt vielmehr aus einer Mischung verschiedener städtebaulicher Elemente mit durchaus unterschiedlicher gestalterischer Qualität und Flair. Da gibt es die historischen Gassen zwischen der Dienerstraße und der Sparkassenstraße, wir haben ein neues und übersichtliches Stachus-Untergeschoss, und eine ganze Reihe von Passagen durchzieht die Altstadt.
In der Wiederaufbauphase nach den verheerenden Schäden des Zweiten Weltkriegs wurde aufgrund einer bewussten Entscheidung des damaligen Stadtrats bereits im August 1945 der Beschluss für einen traditionsorientierten Wiederaufbau getroffen, insbesondere aufgrund der Initiative und Vorschläge des damaligen Stadtbaurats Karl Meitinger: „Wir müssen unter allen Umständen trachten, die Erscheinungsform und das Bild der Altstadt zu retten…, damit wir in einigen Jahrzehnten unser liebes München wieder haben wie es war.“ Gleichzeitig war Meitinger nicht rückwärtsgewandt. Meitinger integrierte die anstehenden und notwendigen, insbesondere verkehrlichen Themen sowie neue Strukturen in seine Planungen. So wurden in unterschiedlichen Teilbereichen der Altstadt – dort, wo es durch Neubaumaßnahmen möglich und nötig war – Arkaden durch Verlegung von Baulinien neu geplant und errichtet, um attraktive und sichere Bewegungsmöglichkeiten für Passantinnen und Passanten zu schaffen. Wohlgemerkt: damals floss noch intensiv der komplette Verkehr durch die Altstadt – einschließlich Straßenbahnlinien! Es war zum Teil auch der schlichte Platzbedarf, der solche Gestaltungselemente notwendig gemacht hat.
Diese bis heute weitgehend überlieferten Arkadenbereiche sind öffentlich gewidmet und erzeugen eine willkommene optische Aufweitung des Freiraums, wobei gleichzeitig eine funktionelle Erweiterung, beispielsweise zum vor Regen und Sonne geschützten Flanieren, erzielt wurde. Eine Umwandlung von Arkadenflächen in Verkaufs- oder Gewerbeflächen konnte bisher in aller Regel und zumindest – z. T. mit erheblichem Druck der Öffentlichkeit und letztlich der Entscheidungsfreudigkeit des Stadtrates vermieden werden. Der kommerzielle Druck ist inzwischen jedoch erheblich gestiegen – ich möchte hier nur an die Diskussion zur Alten Akademie erinnern (vgl. Beitrag von K. Bäumler auf S. 20). Die Erhaltung der Arkadenflächen in der überlieferten Form ist deshalb ein wichtiges Ziel des Ensembleschutzes. Und wir verteidigen das!
Eine Besonderheit der Münchner Altstadt ist die Abfolge von Baustrukturen mit Innenhöfen. Soweit Innenhöfe bis heute überliefert sind, stellen diese einen typologisch bedeutsamen Wert dar. In den Grundlagen zur Wiederaufbauplanung von Karl Meitinger wird in Bezug auf die Innenhöfe eine klare Position bezogen. München baut schon historisch auf einer Verflechtung von Innenhöfen auf, was man beispielsweise sehr gut an der Residenz nachvollziehen kann. Viele innerstädtische Innenhofstrukturen wurden nach dem Krieg teilweise großzügiger freigelegt. Es war ein erfolgreicher Versuch, ein Netz von – zum Teil auch neuen – Wegen aufzubauen, der die Altstadt in einer zweiten Ebene transparent macht. Insofern kommt diesen Innenhöfen besondere Bedeutung zu, da sie einen großen Reiz des Altstadtensembles bei der Durchwegung der Innenstadt ausmachen. Aber nicht nur die heute öffentlich zugänglichen und nutzbaren Innenhöfe (z. B. Asampassage, Passagen zwischen der Theatiner- und Residenzstraße oder zwischen dem Rinder- und dem Viktualienmarkt etc.) stellen einen hohen Wert für München und seine Stadtgesellschaft dar. Bis heute ist die Stadt- und Freiraumplanung erfolgreich, bei der Änderung von Nutzungen in frei werdenden Strukturen vormals geschlossene Blöcke und Höfe ganz oder zumindest teilweise zu öffnen, zu „entrümpeln“, zu verbinden und insbesondere für alle Münchnerinnen und Münchner begehbar und erlebbar zu machen. Als prominente Beispiele sind hier die Fünf Höfe, die Hofstatt, die Alte Akademie oder ganz aktuell das Elementum südlich des Hauptbahnhofs zu nennen. Ein Verweis auf den kleinen Führer für einen Stadtspaziergang „Durch Höfe und Passagen in der Innenstadt“, herausgegeben vom Referat für Stadtplanung und Bauordnung, sei mir hier erlaubt.
Strukturell gab und gibt es aber auch Innenhöfe, die vorwiegend zur Belichtung der Gebäude dienen und von der Öffentlichkeit abgewandt nicht wahrnehmbar sind. Diese Innenhöfe haben ebenfalls eine besondere Bedeutung für das Stadtbild und zwar in Bezug auf Maßstäblichkeit und Körnung der Altstadt. Also die Fünfte Fassade einer Stadt. Hier kann man deutliche Unterschiede zu anderen deutschen Städten (z. B. Hannover oder Mainz) beim Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg erkennen. Münchens Kleinteiligkeit ist an vielen Stellen, insbesondere in der Altstadt erhalten geblieben bzw. bewusst wieder aufgenommen worden. Daneben sind diese Innenhöfe oft auch begrünt oder stehen unter Denkmalschutz, wie der Garten des Radspielerhauses im Hackenviertel, und übernehmen so wichtige Erholungsfunktionen – und in der heutigen Zeit des viel diskutierten Klimaschutzes und der Klimaanpassung aufgrund des seit 2019 ausgerufenen Klimanotstands eine wesentliche klimatische Funktion.
Bis Ende 2021 wird für die Münchner Innenstadt durch das Referat für Stadtplanung und Bauordnung unter Federführung der Grünplanung ein Freiraumquartierskonzept für die Innenstadt, welches wiederum ein Schlüsselprojekt aus dem Konzeptgutachten „Freiraum München 2030“ ist, erarbeitet werden. Grundlage hierfür sind die Untersuchungen zum historischen Grün in der Altstadt, die in einer sehr schönen und nachgefragten Veröffentlichung ihren Niederschlag gefunden haben. Aufbauend auf der bestehenden Tradition soll durch die Qualifizierung von Freiräumen vor dem Hintergrund der Herausforderungen eines wachsenden Nutzungsdrucks, den Auswirkungen des Klimawandels und den räumlichen sowie funktionellen Bedürfnissen der Mobilitätswende eine Aufwertung der Aufenthaltsqualitäten in der Innenstadt erreicht werden. Die historische Innenstadt unterlag schon immer einem starken Veränderungsdruck, welcher ein maßvolles Umdenken und zukunftsweisende Neuinterpretation der bestehenden Räume verlangte. Das Freiraumquartierskonzept soll in diesem Prozess als eine konzeptionelle Rahmenplanung erarbeitet werden und im Weiteren als Grundlage für Einzelentwicklungen im Freiraum und Vision für die angestrebte autofreie Altstadt in der Zukunft dienen. Neben dem Gesamtkonzept wird es Teilkarten geben, die sich mit Einzelthemen wie Grünflächen, Baumpotential, Klimaanpassung, aber auch speziell mit Plätzen, Innenhöfen und Passagen sowie der Ortsidentität auseinandersetzen sollen.
Ein Schwerpunkt wird auch weiterhin auf den Arkaden, Passagen, Höfen und Plätzen liegen, die als wichtige Vernetzungsstruktur die Freiräume untereinander verbinden und so wesentlich zu einer fußläufigen Erreichbarkeit der Freiräume und damit zu einer qualitätvollen Freiraumversorgung mit hoher Aufenthaltsqualität und Identitätswirkung beitragen.
Wie können wir aber diese Erkenntnisse und Erfahrungen auch auf unsere heutigen Quartiere, die aktuell entstanden sind oder in Zukunft entstehen, übertragen? Ein wesentliches Element in der Innenstadt ist natürlich die Nutzungsvielfalt und die Nutzungsdichte, auf die wir dort treffen und die wir in dieser Intensität in unseren neuen Stadtquartieren nicht erreichen werden. Es ist aber einen Versuch wert, möglichst viele Anreize für solche Nutzungsmischungen gerade in der Anfangszeit eines neuen Quartiers zu garantieren. Dafür braucht es ggf. auch Anreize und gewisse Förderungen, um eine zunächst unrentierliche Phase zu überbrücken.
Hier sind wir schon bei einem weiteren wichtigen Aspekt neuer Quartiere. Sie brauchen Zeit! Zeit, eine eigene Identität zu entwickeln, eine gewisse Nutzungsmischung zu verfestigen und nicht zuletzt eine ansehnliche Grünstruktur und eine Patina an der baulichen Struktur entstehen zu lassen. Wir können nicht erwarten, dass unsere Quartiere ab dem ersten Haus schon eine vielschichtige Identität haben!
Selbstverständlich können und sollten wir Stadt-planer*innen die Palette der uns zur Verfügung stehenden Werkzeuge in unseren Neubauquartieren nutzen. Das heißt nicht, dass wir unsere Altstadt mehrfach duplizieren, sondern bestimmte Qualitäten in die Neubauquartiere überführen sollten. Wir können aus der Wirkungsweise der Grundelemente und denen, die bereits Theodor Fischer in seiner Lehre vermittelt und in seinem Staffelbauplan für München angewandt hat, lernen: Wir brauchen die richtigen Dimensionen für neue Plätze! Straßenquerschnitte leben von der Verengung und Aufweitung, Freiräume von wohlüberlegten Begrünungen und Möblierung. Im Straßenquerschnitt kommt es auf den menschlichen Maßstab an. Wir Stadt- und Freiraumplaner*innen sollten wieder ganz bewusst auf Sichtachsen und Ausblicke achten. Auch in unseren neuen Stadtquartieren können bewusst eingesetzte Arkaden und weitere, lange bekannte städtebaulichen Motive hohe Wirkung und Raumqualität entfalten. In den Planungsgebieten Freiham und der ehemaligen Bayernkaserne wird aktuell versucht, diese und weitere Strategien verstärkter einzusetzen, als die Stadtplanung dies bisher getan hat. Darüber hinaus werden in den Quartieren noch weitere Themen wie beispielsweise die sich wandelnden Anforderungen an urbane Mobilität oder Energieversorgung umgesetzt.
Wie Umfragen zeigen, sind die Münchner Neubauquartiere bei ihren Bewohner*innen durchaus beliebt. Die Menschen wohnen gerne dort. Von außen und der örtlichen Fachwelt werden diese leider zu häufig verschmäht, während die überörtliche Fachwelt zur Inspiration nach München kommt, um unsere – häufig preisgekrönten – Quartiere und städtebaulichen Lösungen zu besichtigen.
Was Quartiere jedoch benötigen, ist Zeit. Zeit und eine Chance von den Bewohner*innen belebt zu werden, einen individuellen Charakter zu entwickeln und emotionale Anker zu werfen. Geben wir und Sie ihnen diese Chance!
Autor:
Michael Hardi leitet seit März 2020 die Stadtplanung im Referat für Stadtplanung und Bauordnung in München. Zuvor war er rund vier Jahre Ressortleiter Bau bei der städtischen Wohnungsbaugesellschaft GEWOFAG. Nach dem Studium der Architektur an der Technischen Universität München arbeitete er im Architekturbüro Professor Dr.-Ing. Theodor Hugues und war dann selbstständig tätig. 2002 begann er das Baureferendariat. Nach der Ausbildung zum Regierungsbaumeister arbeitete Michael Hardi zunächst in der Stadtsanierung, anschließend in der Stadtplanung. 2007 wurde er von der damaligen Stadtbaurätin Professorin Christiane Thalgott zum persönlichen Mitarbeiter, Büroleiter und Pressesprecher befördert und war in dieser Funktion vier Jahre für die heutige Stadtbaurätin Professorin Elisabeth Merk tätig. Ab 2010 war er fürdie städtebauliche Entwicklung städtischer Konversionsflächen, insbesondere ehemaliger Kasernenflächen, sowie das Entwicklungsprojekt Münchner Nordosten, zuständig.
Dieser Text stammt aus dem Online-Magazin STANDPUNKTE 02./03.2021 zum Themenschwerpunkt “Plätze – Passagen – Arkaden”.
Bildquellen:
- Emotionaler Anker: Quartiersplatz Nordhaide: Edward Beierle
- Arkaden der Alten Akademie vor dem Umbau: Münchner Forum
- Verbinden-Verknüpfen-Verweilen: Fünf Höf: Moritz Rieke