| Bernhard Fink |

In Neuaubing wohnte man Ende der 60er Jahre i.d.R. aus drei Gründen: Entweder hatte man das Glück, in eines der Häuser mit Garten hineingeboren zu werden, dass die Eltern bzw. Großeltern z.T. noch selbst errichtet haben. Oder die Eltern hatten eine Werkswohnung bekommen, da sie bei der Bahn oder dem Flugzeugbauer Dornier, vereinzelt auch bei der Post arbeiteten.

Mehr als verdoppelt hatte sich die Einwohnerzahl, als in Neuaubing-West zahlreiche Großwohnanlagen von der Heim-/Aufbau Bayern errichtet wurden. Dies waren Mietwohnungen mit einer sozialen Zweckbindung von 30 Jahren, vereinzelt waren auch Eigentumswohnungen darunter, die – je nach Größe – ausschließlich an Familien mit einem oder mehreren Kindern vergeben wurden.Damit einher ging eine veränderte Sozialstruktur. Neuaubing wurde jünger und familienreicher, gleichzeitig aber auch ein sozialer Brennpunkt. Um diesen zu entschärfen wurde u.a. in den 70er Jahren ein Jugendfreizeitheim an der Wiesentfelserstraße errichtet. Das wurde von den Jugendlichen nur bedingt angenommen, einige Jahre später sogar angezündet. Noch in den 90er Jahren wurden Banklehrlingen zuerst beigebracht: Kein Kredit an Kunden aus der Kunreuthstraße!
Aber nicht nur Wohnungen wurden neu gebaut, auch Schulen, ein Ladenzentrum und eine Kirche mit Kindergarten – zentral in der Wiesentfelser Straße 49-68. Dieses Ladenzentrum versorgte die Bewohner mit über 15 Geschäften den täglichen Bedarf. Im 1. Stock gab es Haus- und Zahnärzte. Zudem wurde die Grund- und Hauptschule an der Wiesentfelser Straße errichtet, die Pfarrei St. Markus gegenüber konnte von einem Holzbau in einen ordentlichen – architektonisch fragwürdigen – Neubau umziehen (eine Lehrerin fragte mich allen Ernstes, ob das ein Atomkraftwerk sei).

Die große Mehrheit wohnt(e) gerne in Neuaubing, bietet es doch das Beste aus zwei Welten: Einerseits mit der Aubinger Lohe und den unmittelbar angrenzenden Feldern und Wiesen eine zum Teil unberührte Natur: Kartoffeln, Erdbeeren, Eier und Milch holten wird uns direkt von den Feldern oder beim Bauern in Aubing oder Freiham. Als Kinder kletterten wir im Sommer auf Bäume (wer traut sich höher rauf?) oder radelten zu einem der Badeseen. Im Winter machten wir in einem der zahlreichen Wäldchen ein Lagerfeuer oder konnten in der neu errichteten Grünanlage an der Wiesentfelserstraße Schlitten- oder wer wollte auch Skifahren, manchmal sogar Eislaufen.

Eislaufen an der Wiesentfelder Straße im Jahr 1977

Eislaufen an der Wiesentfelser Straße im Jahr 1977

Andererseits waren wir nur zwölf Busminuten vom Bahnhof Pasing entfernt, die Line 72 fuhr in der Hauptverkehrszeit sogar alle drei Minuten und brachte uns ins Paradies: Pasing konnte uns alles bieten, was wir von einer modernen Weltstadt erwarten: Ein Rathaus, einen Viktualienmarkt, ein Standesamt, ein Krankenhaus, einen Fern-/Regionalzug und S-Bahnhof, einen Stadtpark, ein Hallenbad und ein Freibad, alle weiterführende Schulen, praktisch alle Geschäfte und man konnte dort sogar Schlittschuhlaufen! Noch heute sprechen viele Neuaubinger: „wir fahren zum Einkaufen in die Stadt“ und meinen damit Pasing und nicht die Kaufingerstraße! Entsprechend war die Buslinie auch identitätsstiftend, auf der Zielanzeige stand je nach Richtung Pasing oder eben Neuaubing West. Die Metrobuslinie 57, die heute exakt den gleichen Linienweg der Linie 72 befährt, braucht heute trotz deutlich besserer Motorisierung mit 14 Minuten länger und fährt seltener (maximal alle fünf und nicht 2-3 Minuten). Nach Germering fuhren wir nicht, in Germering wohnen nur die Looser, für die die Stadt zu teuer war. Germering war uns egal. Insgeheim waren wir jedoch neidisch auf das große Freibad und den Badesee.

Aber es gab auch Dinge, die wir schmerzlich vermisst haben bzw. auch 50 Jahre später noch vermissen:

  • ein Gymnasium bzw. eine Realschule (den neuen Schulcampus Freiham können nicht alle Schüler nützen. Dieser wächst mit seinen Einwohnern, daher werden im ersten Schuljahr nur 5. und 6. Klasse Gymnasium angeboten, ein Jahr später auch 5., 6 und 7. usw.)
  • ein Kulturangebot (es gab mal die Rockdisco Fantasy, die durch einen Lidl ersetzt wurde)
  • eine Verkehrsanbindung mit U-Bahn oder Tram, Radwege u.v.m.

Folgende Einrichtungen gab es bereits in Neuaubing, wurden zwischenzeitlich jedoch aufgegeben bzw. nicht ersetzt:

  • Fußläufige Einkaufsmöglichkeiten – das Ladenzentrum an der Wiesentfelser Str. wird derzeit aus energetischen Gründen abgerissen und soll erst in drei (oder mehr) Jahren durch einen Neubau ersetzt werden.
  • Im Ladenzentrum gab es einen Tengelmann und einen Penny (vormals Coop bzw. Supermarkt 2000), einen Blumenladen, einen Bäckerladen, ein Schreibwarengeschäft, einen Textilladen, ein Schuhgeschäft, eine Wäscherei, einen Frisör, eine Fahrschule, eine Eisdiele, eine Stadtbücherei, eine Filiale der Stadtsparkasse usw.
  • Fußläufige Hausärzte;
  • Es gibt auch keinen Metzger mehr, keine Post, kein Fahrradgeschäft, keinen Elektrofachmarkt, keinen Taxistand, keinen McDonald;
  • westlich der Limesstraße gibt es auch keine Bäckerei mehr, keine Bank und ähnliche Dienstleiter.

Alles weg! Neu dazu kam dafür ein Wettbüro, ein Spielcasino und eine Billigtankstelle. Bereits das EU Projekt „Smarter Together“ (Intelligente und nachhaltige Lösungen für ein besseres Leben in städtischen Quartieren) sollte den Niedergang von Neuaubing abbremsen. Hierzu entwickelte die Landeshauptstadt München u.a. gemeinsam mit den Partnern von muenchen.de sowie der MVG die sogenannte München SmartCity App, über die Nutzer Informationen und smarte Services im Stadtteil bequem abrufen können. Über die App konnten die mit viel Fördergeld geschaffenen Mobilitätsangebote wie MVG Rad, eBike und eTrike, Carsharing, ÖPNV, E-Ladesäulen sowie die Quartiersboxen auf einer interaktiven Karte gefunden und gebucht werden. Problem ist, dass das – eigentlich hervorragende und klar aufwertende – Mobilitätsangebot über Nacht ersatzlos eingestellt/abgebaut wurde (Projektlaufzeit 2017-21).

Die Häuser 72 und 74 in der Wiesentfelserstraße im Jahr 2012

Die Häuser 72 und 74 in der Wiesentfelserstraße im Jahr 2012

 

Wird jetzt mit der Entwicklung Freiham alles besser?

2022 war Baubeginn des Stadtteilzentrums „ZAM“ am S-Bahnhof Freiham mit Handel, Gastronomie, Dienstleistungen und Wohnen und 1000 (!) Tiefgaragen-Plätzen. Das wird also unser neuer Anziehungs- und Treffpunkt mit 8.300 m2 Fläche für Einzelhandel, Gastronomie und sonstigem Gewerbe. Im Jahr 2027 soll der südliche Bereich des Landschaftsparks realisiert werden und Mitte/Ende der 2030-Jahre die U-Bahn nach Freiham weitergeführt werden.
Im Augenblick werden wir Neuaubinger von Baustellenlärm statt von Vogelgezwitscher geweckt. Baustellenmüll, den der Wind munter in unseren Grünanlagen oder Bäumen verteilt ist ebenfalls kein schöner Anblick. Wir wissen, ein neuer Stadtteil kann nicht ohne Einschränkungen entstehen. All das nehmen wir gerne in Kauf, sofern uns nur ein Wunsch erfüllt wird: Ein Badesee in Freiham! Und wenn wir träumen: Ein Thermalbad, gespeist aus der Geothermieanlage Freiham! Danach in den Biergarten Freiham auf ein frisch gezapftes Augustiner Bier – natürlich gebraut in Freiham!

Autor:
Bernhard Fink, geboren 1969 in Gräfelfing und aufgewachsen in Neuaubing, hat an der TU München Sozialgeographie u.a. mit Schwerpunkt Verkehrs- und Stadtplanung studiert. Seit 1998 arbeitet er beim MVV für den Bereich Konzeption und ist für das Team regionale Verkehrskonzepte verantwortlich.

 

Dieser Text stammt aus dem Online-Magazin STANDPUNKTE 07./08./09.2022 zum Themenschwerpunkt “Münchens Stadtrand: bloßes Bauland oder mehr?”.

 

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