| Patric F.C. Meier |
Um die Wohnungsnot in den Griff zu bekommen, denken wir viel nach über schwindende Flächen in unseren Städten, über zu teuren Wohnraum und über Nachverdichtung. Und wenn wir bereit sind, etwas differenzierter und vielleicht auch politischer zu denken, dann denken wir auch über Fehlbelegungen nach, über eine mögliche Flexibilisierung der Wohnungen, über lebensphasengerechtes Wohnen. Aus meiner Sicht ist dies tatsächlich die entscheidende Weichenstellung, um aus der vermeintlichen Wohnraumverknappungsspirale raus zu kommen. Denn der Raumanspruch, den wir haben, ändert sich im Laufe unseres Lebens sehr stark. In der Phase der Expansion kann er – gefühlt – nicht groß genug sein. Am Ende wird uns zu viel Fläche zur Last, und wir müssen Menschen als Dienstleister bitten, uns zu helfen, diese instand zu halten.
Und ja, wir können als Planer auch darauf achten, dass die Wohnungen, die wir bauen, flächenoptimiert sind, wenig Verkehrsflächen, viel echte Nutzflächen, Multifunktionsflächen usw. haben. Aber eigentlich ist klar, dass auch der beste Grundriss irgendwann nicht mehr zu uns passt. Am deutlichsten spürbar ist dies, wenn die Kinder ausgezogen sind.
Aber was sind die Hinderungsgründe, die eigenen anvertrauten Räumlichkeiten wirklich zu verlassen? Neben den ganzen Ängsten und Mühen, eine adäquate neue Wohnung zu suchen, hat das meines Erachtens viel mit unserem Selbstverständnis zu tun: Wir sind, was und wie wir wohnen. Es ist unsere Visitenkarte, ein Teil unseres Selbst. So denken wir zumindest. Und natürlich wissen wir, dass wir mehr sind als dies, dass unsere Persönlichkeit mehr ist als die räumlich Hülle, die uns umgibt. Aber nicht nur das Statusdenken hindert uns daran, ein neues Selbstverständnis zu finden.
Wenn wir tatsächlich in der Lage wären, uns persönlich von dieser Identifikation zwischen unserem Selbstbild und der uns umgebenden Hülle zu lösen, dann würden sich auf einmal neue Möglichkeiten auftun. Dann könnten wir vielleicht wirklich flexibler auf neue Lebenssituationen reagieren. Wir könnten neue Freiheiten entdecken, in dem wir im wahrsten Sinne des Wortes „loslassen“.
Nur: Wie kommen wir zu einer derart neuen Haltung? Ich denke, wir stehen vor einer tiefgreifenden Evolution der Gesellschaft, die erkennen wird müssen, dass auch beim Wohnen kein Weg mehr am Teilen vorbeiführt. Und wenn wir uns erst einmal damit angefreundet haben, dann werden wir auch hier merken, dass es ein neuer Luxus sein kann.
Diese neuen Behausungen, die uns nur für eine begrenzte Zeit als Hülle dienen werden, müssen mehr sein als neutrale, weiße Funktionsflächen. Nein, es müssten liebevoll gestaltete Räume sein, die bereits für sich eine Wärme ausstrahlen. Die Räume dürften nicht erst durch ihre Bestückung mit Möbeln zu einem wohnlichen Umfeld werden. Wenn Nischen bereits zum Sitzen einladen würden und Kojen zum Schlafen, wäre das Heimisch-werden einfacher und schneller möglich. Dann wäre die viel zitierte Aneignung nur noch über eigene Accessoires notwendig und nicht durch einen ganzen Hausstand. Zu allem Überfluss würden wir nur noch einen Bruchteil von dem Müll produzieren, den wir heute erzeugen, indem wir immer neue Küchen, Betten und Tische glauben kaufen zu müssen.
Aber ja, die Konsequenzen für unser Selbstverständnis als Persönlichkeit wären natürlich sehr weitreichend. Wer sind wir, wenn wir einfach in eine andere Hülle schlüpfen, eine andere Wohnung akzeptieren würden. Möglicherweise wären wir einfach freier, weil Last von uns fällt. Weil wir weniger Verantwortung tragen müssten, weil wir weniger kaufen müssten?
Mit unserer jungen Genossenschaft VielLeben eG wollen wir dieses Experiment wagen. Wir wollen auf dem Areal des neuen Kreativfeldes in München-Neuhausen ein solches Musterhaus bauen. Hier sollen die Wohnungen genau diese beschriebenen Eigenschaften mitbringen. Leicht bewohnbar, schnell wechselbar, schaltbar, anpassbar … es ist Zeit für kreativeres Leben – KreativLeben eben.
Autor:
Patric F.C. Meier ist Gesellschafter bei agmm Architekten und Stadtplaner. Das Büro sieht sich als Ermöglicher von sinnstiftenden Gemeinschaftsprojekten im urbanen und ländlichen Raum. Er ist Vorstand der VielLeben eG, einer neu gegründeten Wohnungsbaugenossenschaft, und leitet den Arbeitskreis Nachhaltige Quartiersentwicklung im Münchner Forum gemeinsam mit Cornelia Jacobsen.
Dieser Text stammt aus dem Online-Magazin STANDPUNKTE 8./9.2021 zum Themenschwerpunkt “Lebenslagengerechtes Wohnen“.
Bildquellen:
- Beispiel für wohnliche Multifunktionsfläche: agmm Architekten und Stadtplaner