| Matthias Castorph |
In der aktuellen Debatte über Form, Gestaltung und mögliche Veränderung des Münchner Stadtbildes durch hohe Hochhäuser lohnt beim Blick nach vorne, auch ein kurzer Blick zurück, und man könnte sich dabei auch überlegen, ob die Diskussion zuerst über die Inhalte und Nutzungen der neuen Hochhäuser geführt werden sollte, um dann, im zweiten Schritt, über die ästhetischen und formalen Aspekte zu sprechen.
Die Form der Stadt bestimmt sich grundsätzlich aus zwei Faktoren, wie Theodor Fischer 1927/ 1929 in seinen Vorlesungsskizzen über Städtebau notierte: Zum einen aus den Bedürfnissen (z.B. dem Wohnen und dem Verkehr) und den naturgegebenen Voraussetzungen und zum anderen aus dem Spannungsfeld der Tradition (der Gewohnheit und Eklektik) und der Neuerungslust, die den Formwillen zur Stadtgestaltung bestimmen. Damit bedingen einerseits Zweck und Natur und andererseits Überlieferung und Erfindung die Form der Stadt, wobei er die Form im Städtebau als das Verhältnis der Elemente beschreibt, als Verhältnis zwischen Raum und Körper (Konkavität vs. Konvexität), dessen Wandel eine Gesetzmäßigkeit (Polarisationsgesetz) hinterlegt ist, bei der die Entwicklung der Stadtform zwischen der Betonung des Raums (konkav) und der Betonung des Körpers (konvex) pendelt. Diese heute vorherrschende Betonung des einzelnen Gebäudes über den umgebenden Kontext spiegelt damit auch eine gesellschaftliche Veränderung vom Kollektiven zum Individuellen. Wenn damit für Theodor Fischer „saxa loquuntur“, die realisierte Architektur als unerbittlich klarer Spiegel, wenn das Gebaute auf den Zustand der Gesellschaft Rückschlüsse zulässt – so erkennt man, dass der bauliche Zusammenhang des Kollektiven in einer von Individualinteressen geprägten Gesellschaft schwindet und das individuell betonte, das „Konvexe“ im Stadtbild die dominierende Rolle übernommen hat. Über diese Einordnung Fischers lassen sich diese Entwicklungen und Eingriffe zuordnen, ohne sie sofort bewerten zu müssen. Auch bei dieser polaren Betrachtung geht es ihm nicht um ein „entweder oder“, sondern ein „sowohl als auch“ in der Entwicklung einer gewachsenen und wachsenden Stadt. Mit dieser Sicht ist es grundsätzlich nachvollziehbar und möglich, dass einzelne Baukörper aus der Masse der Bauten hervortreten, die Stadt überragen und aus der Ferne sichtbar werden. Der konvexe Hochpunkt war schon immer eine Möglichkeit, durch sein selbstbewusstes Herausragen, als Dominante, das Stadtbild zu prägen, es durch Über- und Unterordnung der Baukörper zu ordnen und so im Bild der Stadt deren inhaltliches Gefüge nachvollziehbar zu gliedern und zu gestalten.
Waren es früher die Kirchtürme, die sich über München erhoben, als Ausdruck geistlicher Macht, und später das Rathaus und die zugehörigen Hochhäuser der städtischen Verwaltung, als bürgerlicher Ausdruck der Überordnung über den Stadtkörper, so konnten dann im 20. Jahrhundert auch Hochpunkte der Infrastruktur (Schlote, Kamine und Kraftwerke und auch der Olympiaturm als Sendemast) zweckbestimmt die Stadtsilhouette prägen, gemeinsam mit den Bürohochhäusern der Banken und Versicherungen oder auch einzelnen Hotelbauten, die ebenfalls die Fernwirkung der in der flachen Schotterebene liegenden Stadt akzentuieren durften.
Diese Dominanten ragen in München aus der heterogenen Mischung des Gebauten, der mittleren Höhenentwicklung, die aus den Häusern des gewöhnlichen Wohnens und Arbeitens gebildet werden, heraus. Sie gliedern den Stadtkörper: Zum einen ragen sie heraus, weil es ihr legitimierter Anspruch ist zu dominieren, also sich schon von Ferne in ihrer Bedeutung im Stadtbild sichtbar zu machen, oder zum anderen bei der Infrastruktur aus der technischen Notwendigkeit. Die Legitimation des Herausragenden ergab sich also aus dem postulierten und gewährten Anspruch oder der technischen Notwendigkeit. Soweit erklärt sich die Fernwirkung für das gewachsene München.
In den letzten Jahren gab es dann weitere Veränderungen der Münchner Stadtsilhouette. Einzelne Bürohochhäuser kamen in städtischen Lagen dazu oder sind noch in Planung und Bau. Der das Stadtbild weit überragende Kamin des Heizkraftwerks Süd wurde rückgebaut, da er technisch nicht mehr notwendig war. Und der Olympiaturm bestimmt weiterhin, auch wenn er nicht mehr als Funkturm notwendig ist, als Hochpunkt das Erbe des Olympiaparks.
Öffentliche Bauten, Büros- und Verwaltungsbauten und Hotels bestimmen im Wesentlichen die Erscheinung. Lediglich das individuelle Wohnen dominierte bis jetzt nicht die Silhouette der Stadt – mit einer Ausnahme: das umgebaute Heizkraftwerk an der Müllerstraße. Hier wurde die herausragende Dominante des ehemals notwendigen Heizkraftwerks in städtebaulich-dominierendes Individualwohnen verwandelt.
An dieser Stelle zeigt sich gebaut, was es im Kontext bedeutet, wenn herausragendes Wohnen das vorhandene städtische Wohnen im Quartier dominiert.
Warum sollte Wohnen im Hochhaus das Wohnen seiner Umgebung dominieren? Was legitimiert diese Wohnform als herausragend? Es sollte nach dieser Erfahrung die offene Diskussion ansetzen, welche Nutzungen in Zukunft die Silhouette und den Ausdruck der Stadt bestimmen werden. Weil dies in der aktuellen Debatte bisher noch kaum berücksichtigt wurde, sollten wir jetzt fragen und diskutieren, ob exklusives Hochhauswohnen unser Stadtbild der Zukunft dominieren soll bzw. warum? Cui bono? Denn bei aller Aufregung, an welcher Stelle und in welcher Sichtachse man neue Hochhäuser sehen kann, ist doch die Frage relevant, was denn diese Hochhäuser und Blickpunkte bedeuten und aussagen werden? Wer soll und darf im Gebauten über die Stadt herrschen? Was legitimiert die Dominanz des Herausragenden über das „Gewöhnliche“ des Stadtkörpers?
Somit könnte die Hochhausdebatte über eine ästhetisch-funktionale Debatte hinauswachsen, zu einer inhaltlichen, letztendlich auch politischen Debatte werden, in der die Frage einer ästhetischen Dominanz des Individuellen in der Stadtgesellschaft zuerst kollektiv verhandelt wird. Darf oder soll jeder und jedes herausragen? Warum sollte individuelles Wohnen das kollektive Stadtbild dominieren? Was wäre gewonnen, wenn wir stattdessen die Fernwirkung der Stadt, ihre Silhouette, als Ausdruck des Kollektiven mit den Bauten unserer öffentlichen Verwaltung, der Religionen, der Bauten der Gemeinschaft, der öffentlichen Nutzungen herausragend gestalten?
Diesen Fragen sollten wir uns stellen und dabei zuerst den Inhalt der Dominanten und erst später ihre Form diskutieren. Dann würde sich vielleicht auch die Kontroverse über die geplanten Zwillingstürmen an der Paketposthalle strukturierter führen lassen. Denn vielleicht könnte es in dieser Debatte im Grundsatz nicht zuerst darum gehen, ob man überhaupt herausragend und wie hoch man herausragend bauen soll oder darf, sondern was, welcher Inhalt, welche Nutzungen und Aktivitäten die Stadtsilhouette in Zukunft als weithin sichtbarer Ausdruck unserer Stadtgesellschaft prägen werden.
Autor:
Prof. Dr. Matthias Castorph ist Architekt und Stadtplaner. Er studierte Architektur an der TU München und wurde an der Universität Kaiserslautern promoviert. Er lehrte und forschte am Lehrgebiet- und Forschungsgebiet für „Stadtbaukunst und Entwerfen“ an der TU Kaiserslautern, dessen Leitung er 2020 als Universitätsprofessor übernahm. Schwerpunkte seiner Lehr-, Forschungs- und Publikationstätigkeit waren dabei die städtebaulichen Werke und Schriften von Karl Henrici, Cornelius Gurlitt und Theodor Fischer. 2021 wurde er an die TU Graz berufen und übernahm die Leitung des Instituts für „Entwerfen im Bestand und Denkmalpflege“. Mit seinen Partner:innen Felicia Lehmann und Haiko Tabillion plant er in München Wohnungs- und Bürobauten, Bauten im Bestand und denkmalgerechte Sanierungen. www.ltundc.de
Dieser Text stammt aus dem Online-Magazin STANDPUNKTE 04./05./06.2022 zum Themenschwerpunkt “Paketpost-Areal: Kippen die Hochhäuser?”.
Bildquellen:
- gestalt der stadt groessing: Grössing
- Panorama München: Ingo Diron, Wikimedia