Über die Zusammenhänge von Bahnhöfen und Stadtentwicklung

| Spyridon (Spyros) N. Koulouris |

Einst Zeugen des rasch voranschreitenden Industrialisierungsprozesses, werden Bahnhöfe heutzutage fast ausschließlich als Orte des Ankommens und des Abreisens wahrgenommen. Mit Ausnahme der zentralen (Haupt-)Bahnhöfe werden die meisten Bahnhöfe somit in ihrer Mobilitätsfunktion beschränkt. Im Gegensatz zu den in sich orientierten und von der Stadtstruktur abgetrennten Flughäfen gelten Bahnhöfe und Bahnhofsviertel weiterhin als sozial und räumlich herausfordernde Orte im Stadtgefüge. Wenig deutet auf die Potenziale hin, die durch die integrierte strategische Planung und Wechselwirkung von Bahnhof und Stadt entstehen können.

Im Rahmen des von der EU geförderten Projektes Rail4Cities, an dem die Professur für Urban Design der TU München beteiligt ist, wird das Potenzial der Bahnhöfe für eine nachhaltige Stadtentwicklung untersucht. Eines der ersten und wichtigsten Ergebnisse im Forschungsprozess ist, dass der Bahnhof nicht als „Insel“ in der Stadt betrachtet werden soll. Nahezu alles, was er für die städtische Umgebung leisten kann, ergibt sich aus seiner gelungenen Integration und Erreichbarkeit im urbanen Gewebe sowie durch die daraus resultierenden räumlichen und funktionalen Wechselwirkungen.

TOD als Konzept der koordinierten Stadt- und Mobilitätsentwicklung

Diese Zusammenhänge werden in der Fachwelt häufig durch den englischen Begriff Transit Oriented Development (TOD) zusammengefasst, der die aufeinander abgestimmte Entwicklung von Stadt und Mobilitätsinfrastruktur beschreibt. Im regionalen Maßstab propagiert TOD, dass – um die zukünftigen Herausforderungen einer nachhaltigen Mobilität zu bewältigen – die Siedlungsentwicklung dort stattfinden soll, wo auch Erreichbarkeit durch den Schienenverkehr vorhanden ist. Umgekehrt soll die Schieneninfrastruktur dort ausgebaut werden, wo sie am meisten durch die räumliche Nähe und Anbindung an möglichst dichten Siedlungsgebieten am effektivsten genutzt wird.

Im urbanen Maßstab wird der Bahnhof im Rahmen des TOD als ein Punkt der Erreichbarkeit betrachtet, der durch eins für Fußgänger*innen, Fahrradfahrende und für den ÖPNV optimiertes Straßennetz möglichst effektiv mit den umliegenden Quartieren verbunden ist. Die sogenannte „Walkability“ der Straßenlandschaft spielt dabei eine große Rolle, ebenso wie die Mischung und räumliche Nähe der städtischen Nutzungen wie zum Beispiel Wohnen, Einkaufen und Arbeiten, um möglichst kurze Wege im Alltag zu ermöglichen (sog. „15min Stadt“), um dadurch die Nutzung von privaten Fahrzeugen und den Bedarf der entsprechenden Parkflächen rund um den Bahnhof zu reduzieren.

Aus diesen Gründen sind die Flächen rund um den Bahnhof am wertvollsten für eine Stadtentwicklung im Sinne des TOD, da sie am besten erreichbar und deshalb am attraktivsten für die meisten Nutzungen sind. Dies zeigt auch eins der zentralsten Problematiken von TOD im deutschen Kontext auf, nämlich dass die fragmentierten Besitzerverhältnisse dieser Flächen eine koordinierte Entwicklung von Bahnhofsgebieten behindern können. Viele erfolgreiche Projekte der Stadtentwicklung rund um Mobilitätsknoten im Ausland wurden von den Bahngesellschaften initiiert, da die umliegenden Gebiete der Bahnhöfe in deren Besitz waren. Jedoch liegen die Potenziale nicht nur in dem am Bahnhof umliegenden Stadtgewebe. Auch Bahnhöfe an sich als räumliche Strukturen können zur Qualität und Lebendigkeit von Quartierszentren beitragen. Als Orte mit erhöhtem Personenverkehr bieten die sich an für die Integration von alltäglicher Versorgung sowie auch Co-Working Spaces und mobilen Arbeitsplätzen, die im Rahmen der voranschreitenden Flexibilisierung des Arbeitsmarktes immer wichtiger werden, vor allem an Orten hoher Erreichbarkeit und potenzieller Wartezeiten. Die Erreichbarkeit durch den Schienenverkehr kann noch durch last-mile sharing-Mobilitätsservices (z.B. Fahrrad, E-Scooter) und ausgebauter ÖV-Infrastruktur ergänzt werden. Im Idealfall sind diese Angebote im Sinne des MaaS (Mobility as a Service) durch gemeinsame Ticketing Services und digitale Buchungsmöglichkeiten bestmöglich in das Bahnreisen integriert, sodass die Reisenden ihre Reise von Tür zu Tür nahtlos planen und durchführen können. Solche erhöhte Konnektivität zur umliegenden Stadtstruktur schafft beste Bedingungen für die Ansiedelung der vorerwähnten städtischen Funktionen am oder im Bahnhof.

Unter diesen Voraussetzungen kann der Bahnhof mehr als ein Ort zum Ein- und Aussteigen sein, nämlich als wichtiger Stadtbaustein die Rolle eines Quartiers(sub)zentrums übernehmen. Eine diversifizierte Nutzung während des ganzen Tages kann weiterhin zum Lösungsansatz für soziale Problematiken werden, die rund um Bahnhöfe oft vorhanden sind. Voraussetzung für die Entfaltung dieser Potenziale ist eine strategische interskalare Planungspraxis. Kein Service wird am Bahnhof von Nutzen sein, wenn dieser nicht durch die entsprechenden Mobilitätsnetzwerke ausreichend erreichbar ist. Genauso kann man keine Verlagerung der Mobilität auf die Schiene erwarten ohne eine effektive Vernetzung und Verbindung von Bahnhöfen zur umliegenden Siedlungsstruktur (sog. „catchment area“). Die Vorstellung des zukünftigen Bahnhofs bewegt sich weg vom simplen „Gleis mit Parkplatz“ und hin zum vernetzten Quartiers(sub)zentrum, was mehrere städtische Nutzungen rundherum anzieht, und durch passende Mobilitätsinfrastruktur und optimierte Mobilitätsräume mit den umliegenden Stadtteilen bestens verbunden ist. In diesem Sinne ist der Bahnhof als Punkt der Erreichbarkeit ein räumlicher und funktionaler Träger der Stadtentwicklung und der nachhaltigen Mobilität.

Herausforderungen für die Planungspraxis

Die Zielvorstellung des Bahnhofs als ein Schlüsselbaustein in der zusammenhängenden Entwicklung von Stadt und Schieneninfrastruktur birgt jedoch zahlreiche Herausforderungen für die Planungspraxis – angefangen von der nötigen Zusammenarbeit zahlreicher Akteure, (u. a. die Bahngesellschaften, private und öffentliche Verkehrsträger, Kommunen, private Grundeigentümer), um die Stadt- und Regionalentwicklung mit dem Mobilitätsangebot abzustimmen, bis hin zum Umgang mit den fragmentierten Eigentumsverhältnissen, welche die Stadtentwicklung um den Bahnhof hindern können. Der Bedarf nach einem Paradigmenwechsel in der Planungskultur wird deutlich.

Aufgrund der Zusammensetzung der Akteure aus lokaler, regionaler, Bund- und Landesebene und deren oft divergierenden,einander widersprechenden Interessenslagen und Zielvorstellungen können TOD-Planungsprozesse besonders herausfordernd sein. Sie sind jedoch notwendig, um den Schienenverkehr zur realistischen Alternative gegenüber dem Autoverkehr auszubauen und somit die nachhaltige Mobilität in lebenswerten Stadtquartieren zu fördern.

Erste konzeptionelle Impulse für den TOD im süddeutschen Raum wurden zum Beispiel im Rahmen des Studierendenwettbewerbs „Glorius Hubs“ gesetzt, der vom Verband Region Stuttgart und von der Hochschule für Technik Stuttgart (HfT) ausgelobt worden ist. Dabei wurde das Potenzial von Bahnhöfen als „Kristallisationspunkte für die Schaffung von Wohnraum und zur Ansiedelung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Infrastrukturen“ /1/ erkannt und durch eine Vielzahl von Entwurfsbeiträgen räumlich konkretisiert. In diesem Rahmen wurde TOD (auch) als eine Antwort auf die Wohnungsnot eingesetzt, mit dem Ziel, neue, dichte und gut angebundene Quartiere entstehen zu lassen.

Relevanz des TOD für die IBA

Die IBA „Räume der Mobilität“ bietet das Potenzial, die Wichtigkeit der in Deutschland unterbelichteten Thematik des TOD als verknüpfendes Querthema in der Transformation der Metropolregion München aufzuzeigen. Die Betrachtung der IBA-Projekte durch diese Lupe fördert die Aufwertung bestehender Infrastruktur und räumlicher Potenziale und fungiert somit als Treiber für eine ressourceneffiziente Stadt- und Mobilitätsentwicklung. Sei es im Rahmen von Mobilitätsprojekten in bereits dichten urbanen Orten, oder in der städtischen Entwicklung von peripheren Räumen, es geht um die bestmögliche Ausnutzung der vorhandenen ÖV-Erreichbarkeit, um die räumliche Nähe alltäglicher Funktionen und um die Verknüpfung von Verkehrsträgern mit der Siedlungs- und Quartiersentwicklung.

Jedes Projekt und jeder Kontext muss zwar individuell betrachtet werden, jedoch kann (und im Sinne der Nachhaltigkeit – sollte) TOD als verknüpfendes Element in diesem Prozess einen generischen Rahmen liefern, um die einzelnen Projektaspekte in Hinsicht auf deren Rolle in einer auf den ÖV orientierten Stadtentwicklung evaluieren zu können.

Nicht zuletzt bietet die IBA eine wichtige Plattform für die Zusammenarbeit vieler Akteure, die für eine städtische Transformation im Sinne des TOD notwendig sind, wie z.B. der Deutschen Bahn, lokaler Verkehrsgesellschaften, privater Grundeigentümer und Kommunen, um gemeinsame Zielvorstellungen zu entwickeln und die vielfältigen Anknüpfungspunkte von technischer Mobilitätsinfrastruktur und stadträumlicher Entwicklung gemeinsam zu erarbeiten.

Der Autor:

Spyridon (Spyros) N. Koulouris hat Architektur und Urbanistik studiert und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Urban Design der TUM. Seine Forschungsschwerpunkte sind Transit-Oriented Development und grüne urbane Transformation.

 

Zum Weiterlesen:

/1/ Mehr Infos: Hemberger, C., Rodenbüsch, M., & Trovato, R. (2024). Glorius Hubs: Die Wiederentdeckung der Bahnhofsareale als Zentrale Lebensorte in der Region Stuttgart. Verband Region Stuttgart. https://www.region-stuttgart.org/flipbook/glorious-hubs/#page/1

 

Dieser Text stammt aus dem Online-Magazin STANDPUNKTE 07./08./09.2024 zum Themenschwerpunkt “Die IBA: Hintergrund, Gedanken und Projektvorschläge”

 

Bildquellen:

  • TOD Abbildung: Quelle © Büttner, B., Seisenberger, S., Baquero, M., Rivas, A. Haxhija, S., Ramirez, A., & McCormick, B. 2022. ±15-Minute City: Human-Centred Planning in Action. In: Urban Mobility Next 9. EIT Urban Mobility.
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