| Johann Hartl |
Hier soll angerissen werden, was in den Randgemeinden großer Städte wohl allgemein zu beobachten ist: das Verhältnis der Umlandgemeinden zur Kernstadt, zum weiteren Umland und untereinander. Als Beispiel steht hierfür der Raum südöstlich von München, von meinem Standort als Beobachter in Ottobrunn der Gürtel von Wohnsiedlungen und Großunternehmen im Hachinger Tal und östlich davon auf der Schotterebene.
Der Raum südöstlich von München war (und ist) abgesehen von der Offenlandschaft des Hachinger Tals durch große Wälder geprägt, durch den Perlacher Forst nach Harlaching und Grünwald hin und durch den Höhenkirchener Forst mit den Dörfern in den Rodungsinseln. Im Rahmen der Münchner Stadtentwicklung war dies ein zunächst „vernachlässigter“ Raum. Die Münchner Villenvororte entwickelten sich eher über Pasing Richtung Starnberger See oder kleinräumig entlang der Isar, Gewerbe entstand in München selbst und im Münchner Norden. Erst 1898 wurde die Bahn vom Ostbahnhof nach Deisenhofen gebaut, 1904 der Abzweig von Giesing bis Aying. Zwar wurden mit den Lokalbahnen dann langsam auch diese neuen Siedlungsachsen erschlossen, aber Bahnanbindung wie Besiedlung blieben zunächst bescheiden.
Wald hatte früher nicht den Stellenwert, den er jetzt schon lange einnimmt; wertvoller waren da für die Bauern sogar die schlechten Böden der Schotterebene. Deshalb erfolgte die Aufsiedlung des Raumes zunächst eher durch Waldkolonien, so ab 1912 in Neubiberg, etwa zeitgleich in Waldperlach (1930 mit Perlach nach München eingemeindet), und auf Unterhachinger Gemeindegebiet im seit 1955 selbstständigen Ottobrunn. Die Wohnungs- und Hungersnot nach dem Ersten Weltkrieg hat trotz unzureichender Verkehrsanbindung zu einer stärkeren Nutzung der früher geschlossenen Wälder geführt.
Daher war im Hachinger Tal Raum genug, dass 1933, zuerst getarnt, südlich von Perlach der Fliegerhorst Neubiberg angesiedelt werden konnte – aus heutiger Sicht viel zu stadtnah, wie auch beim Flughafen Riem. Die – im Vergleich zum Westen Münchens – geringe Besiedlung und die schlechte Bodenqualität sowie die großen Forstflächen ermöglichten in der Aufrüstung des Dritten Reichs auch die – nach außen hin kaum auffällige – Ansiedlung der Luftfahrtforschungsanstalt im Forst weiter südlich (heute ein Hightec-Gewerbepark) oder die Anlage der Heeresmunitionsanstalt („Muna“, auch ein großes Giftgasdepot) im Forst zwischen den Rodungsinseln Hohenbrunn und Siegertsbrunn (S-Bahn-Haltepunkt Wächterhof), heute zum Teil ein gemischtes Gewerbegebiet.
Seit der Eingemeindung Perlachs 1930 und Trudering 1932 haben sich die Stadtgrenzen Münchens im Südosten kaum verändert; im Westen der Stadt dagegen wurden im Dritten Reich zahlreiche Landgemeinden eingemeindet. Augenfällig wird dies, wenn man auf einer Landkarte die Bereiche links und rechts der Isar vergleicht; rechts der Isar liegen nur 29 Prozent des Stadtgebiets, die Stadtgrenze damit wesentlich näher am Stadtzentrum. 1972 wurde die Kreisgebietsreform abgeschlossen, 1978 die kommunale Gebietsreform. Dabei war es München nicht möglich, weitere Eingemeindungen zu erreichen, über politische Erwägungen kann man spekulieren. Dafür wurde die „Sichel“ des Landkreises München um die Stadt München – die zugleich „kreisfreier Kreissitz“ ist – mit (jetzt) 27 Gemeinden nach außen hin erweitert. Mit 350.000 Einwohnern ist er der einwohnerstärkste in Bayern.
Bei der Gemeindegebietsreform haben sich bekanntlich viele Gemeinden einer Zusammenlegung widersetzt. So sollte aus Grasbrunn, Putzbrunn und Hohenbrunn eine Gemeinde werden – aber jede erfreut sich weiterhin ihrer Selbstständigkeit. Auch funktional sinnvolle Gebietsänderungen sind in diesem Südostraum nur in geringem Maße erfolgt. Deshalb beginnt gleich südlich des S-Bahnhofs Ottobrunn das Gemeindegebiet von Hohenbrunn – mit dem Ortsteil Riemerling, der der südlichste Teil des Waldkolonien-Gebiets Waldperlach – Neubiberg – Ottobrunn ist. Auch wenn die Gemeinden teilweise gut zusammenarbeiten: nur die Ortsschilder zeigen einem, wann man von einer Gemeinde in die andere kommt, vielleicht auch noch durch die Putzbrunner Waldsiedlung und bis in den Taufkirchener Birkengarten.
Bis hierher ist ja alles Idylle – kommen wir zu den Problemen.
Die Einwohnerzahlen des Landkreises sind selbstverständlich auch (aber nicht nur) Ergebnis der Umlandwanderung der Münchner, begünstigt durch ein gutes Verkehrssystem, die radiale S-Bahn. Der Landkreis hatte um 1970 – also etwa zu Zeiten der Kreisgebietsreform – auf dem heutigen Gebiet rund 170.000 Einwohner, jetzt mehr als das doppelte. Das sind dann auch solche, die zum Stau auf den Straßen oder zum Gedränge in der S-Bahn beitragen; aber es sind auch viele Arbeitsplätze im Umland entstanden – so dass auch der ausströmende Verkehr beachtlich ist. Bei den sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen pendelten (zumindest statistisch, Corona ausgeblendet) im Jahr 2020 aus dem Landkreis 68.811 Arbeitskräfte nach München, dagegen 81.670 aus München in den Landkreis.1 Das liegt auch daran, dass die Arbeitsplatzdichte (sozialversicherungspflichtige Beschäftigte am Arbeitsort, je 1.000 Einwohner) im Landkreis München mit 686 höher liegt als in der Stadt mit 603 (anno 2020; für die Region München: 511, für Bayern: 432).2
Ursache hierfür ist die Randwanderung der „Industrie“, heute keine dreckigen Fabriken mehr – die ziehen gleich weiter, globalisiert. Es sind Bürostandorte, Forschung, Dienstleister, Fernsehsender (Unterföhring!). Zum Standort im Umland tragen auch die kommunalen Hebesätze der Gewerbesteuer bei. Dazu muss man nicht unbedingt nach Grünwald, das Attac mit einem Hebesatz von 240 zu den „Schattenfinanzplätzen“ zählt, 7.000 Firmen in einer 11.000 Einwohner-Gemeinde.3 Denn während München mit einem Hebesatz von 490 abschreckt, locken hier im Südosten schon Neubiberg mit 280 oder Oberhaching mit 270.4 Während es sich bei den Grünwalder Firmensitzen wohl oft nur um mehrere Namen auf einem Briefkasten handelt oder rechnerisch um einen Quadratmeter im Büro, nehmen „richtige“ Firmen mehr Fläche in Anspruch. Das abschreckendste Beispiel hier dürfte der Infineon-Standort im Hachinger Tal sein.
1961 war ein Gebiet westlich der Bahn von Unterbiberg (heute: Neubiberg) nach Unterhaching eingemeindet worden, um dort die Großsiedlung Fasanenpark zu errichten. Das war – wie auch später die Großsiedlung Taufkirchen – eine bewusste, auch von der Stadt München mitgetragene Entwicklung zur Entlastung des Münchner Wohnungsmarkts; denn die Wohnungsbewirtschaftung nach dem Wohnungsbaugesetz konnte in München erst 1972 aufgehoben werden. Auf der Höhe von Fasanenpark war das südliche Kapellenfeld auf Neubiberger Flur unbebaut, und am 5.12.2000 beschlossen die Gemeinderäte auf der Versammlung des Regionalen Planungsverbands (RPV), den „Regionalen Grünzug 8 Hachinger Tal“ in seinem Zustand zu belassen. Drei Tage später wurde von Infineon in Neubiberg der förmliche Antrag auf Aufstellung eines vorhabenbezogenen Bebauungsplans nach § 12 BauGB gestellt – obwohl die Bürgermeisterin ebenfalls noch für den Grünzug gestimmt hatte. Nach weiteren zwei Monaten wurde im Planungsausschluss des RPV beschlossen, den Grünzug auf einen 100 Meter breiten Streifen entlang der Autobahn einzuschränken. Die Argumentation der Bürgermeisterin war ein rabulistisches Meisterstück: „Die Ausweisung eines Grünzugs bedeutet keinen Flächenschutz. Dies bedeutet, dass die Definition als regionaler Grünzug kein Verbot jeglicher Bebauung ist, sondern eine Bebauung den Funktionen des Grünzugs nicht entgegenstehen darf. Eine Freihaltung des Grünzugs (…) wird somit auf langfristige Sicht nicht möglich sein. Für den Grünzug ist es vorteilhafter, ein Unternehmen mit Verwaltungs- und Forschungseinrichtungen in einer architektonisch ansprechenden Umgebung anzusiedeln als viele kleinere Unternehmen oder andere Vorhaben.“5
Der vorhabenbezogene (also wesentlich vom Unternehmen betriebene) Bebauungsplan wurde rekordverdächtig bereits im August 2002 festgesetzt. Heute blockiert hier eine monofunktionale Büroanlage mit der Phantasiebezeichnung „Campeon“ (Campus + Infineon)6 den Landschaftsraum des Hachinger Tals. Zur Autobahn hin ist sie durch einen sieben Meter hohen Lärmschutzwall abgeschirmt, selbst von einem Wassergraben umrahmt wie eine absolutistische Festungsanlage. Zwar nutzen umweltbewusste Mitarbeiter auch die S-Bahn am Fasanenpark, aber für andere wurde eine Autobahnabfahrt angelegt. Für 7.000 Beschäftigte wurde ein Individualverkehrs (IV)-Anteil, also überwiegend Pkw-Nutzung von 70 Prozent (gegenüber 30 % ÖV [Öffentlicher Verkehr], d.h. vor allem S-Bahn) prognostiziert.7 Infineon kam nicht irgendwoher, sondern wanderte nur drei S-Bahn-Stationen weiter, aus der Balanstraße in Ramersdorf, aus einem städtebaulich eingewachsenen Standort in die vordem freie Landschaft. Die neue Gestaltung der ehemaligen Offen-Landschaft des Hachinger Tals firmiert als „Landschaftspark“.
Infolge der speziellen Verkehrslösungen – das Campeon hat nur eine Notausfahrt aus der Tiefgarage nach Unterhaching, keine direkte Straßenanbindung – bleiben den Anwohnern Belastungen erspart, wie sie sonst zwischen den Gemeinden hier üblich sind. Unterhaching hat in Entfernung vom eigenen Siedlungsraum das Gewerbegebiet Grünwalder Weg an die Nordseite von Taufkirchen gelegt, Brunnthal das Gewerbegebiet Nord möglichst stadtnah an die Brunnthaler Straße. Der dortige IKEA-Markt und ein Baumarkt werden durch die Gemeindegebietsgrenze Brunnthal-Taufkirchen jeweils diagonal geschnitten, so dass der Besucher sich auf der Suche nach Artikeln unbemerkt ins andere Gemeindegebiet bewegt. Hier konnten sich die Gemeinden darüber einigen, den Forst abzuholzen, um dann umso besser zu kassieren; der Verkehr bleibt auf der Autobahn oder stört nur Nachbargemeinden. Der Einzugsbereich dieses Gewerbegebiets ist groß, denn mit Metro lockt ein weiterer „Magnet“ in der Nähe des Autobahnkreuzes München-Süd, fernab von Wohngebieten. Auch im Kleinen sind die Gemeinden meisterhaft darin, Supermärkte und Shoppingcenter so an ihrem Rand zu lokalisieren, dass sie sowohl der Nachbargemeinde als auch den eigenen, fußläufig erreichbaren Ortsmitten Kaufkraft abschöpfen.8
Worin liegen die Gründe für diese egoistischen bis parasitären Fehlentwicklungen in den letzten Jahrzehnten?
Die bereits 1950 gegründete Planungsgemeinschaft Äußerer Wirtschaftsraum München hatte zunächst einen wesentlich kleineren Einzugsbereich als heute. Regionalplanung war noch nicht institutionalisiert, die Probleme waren andere. Diese, seit 1952 „Planungsverband“ genannte, freiwillige Organisation der engeren Umlandgemeinden erstellte 1956 den ersten Regionalplan. „Der PV“ war Dienstleister für Flächennutzungspläne und Bebauungspläne, aber auch Koordinator zwischen Stadt und Umland. In den 1970er Jahren wurde die Landesplanung und Regionalplanung staatlicherseits formalisiert. Der „Regionale Planungsverband“ im gleichen Hause übernimmt seit 1973 die Regionalplanung in der Planungsregion 18 München. Andererseits ist der „PV“ weiterhin eine Organisation freiwilliger Mitglieder und greift mit inzwischen 166 Mitgliedsgemeinden weit über den Bereich der Planungsregion hinaus.
In der Regionalversammlung sind die Bürgermeister der Planungsregion versammelt. Die früher positiv gesehene Rolle einer Regionalplanung wird nun zum Verteilungskampf zwischen den Gemeinden; damit der nicht zu sehr schmerzt, bleibt sie unverbindlich. Zudem haben sich die Raumstrukturen geändert – Schienenachsen wie die radialen S-Bahnen mögen standortbildend für Wohnstandorte sein, nicht aber für ubiquitäre Gewerbeflächen. Und für Unternehmen sind Gewerbesteuerhebesätze wohl ein stärkeres Argument als denn Wohnstandortnähe für ihre Arbeitskräfte. Pkw-affine Einzelhandelskonzerne wie IKEA, METRO oder Baumärkte suchen nicht einen Standort, sie machen ihn.
Daher bräuchte es stringente Raumnutzungsplanungen, von der Bundesraumordnung (so gut wie nicht vorhanden), Landesplanung (immer in Gefahr, weichgespült zu werden) bis zur Regionalplanung, und – ja! – ein Zurechtstutzen der sogenannten kommunalen Eigenentwicklung und der kommunalen Satzungshoheit in der Bauleitplanung. Bisherige Fehlentwicklungen lassen sich damit kaum zurückdrehen, aber hoffentlich Weiterungen vermeiden. Denn die Landschaftsräume des Münchner Umlands sind auch Erholungsraum für die Bevölkerung, offene Landschaft wie Wälder. Sie geraten derzeit ohnehin in Gefahr, als Raum zur Energiegewinnung in den Agrarflächen mit Photovoltaik, hier und in den Forsten mit überhohen Windenergieanlagen herhalten zu müssen.
Autor:
Dr.-Ing. Johann Hartl, studierte Stadt- und Regionalplanung an der TU Berlin und verfasste seine Dissertation 2003 bis 2007 „Die Grenze der gebauten Stadt zur freien Landschaft“ am Beispiel des Raums südöstlich von München bis zur Staatsgrenze; darin wurden auch die damals aktuelle Entwicklung der Messestadt Riem und München-nah Haar, Höhenkirchen-Siegertsbrunn, Ober- und Unterhaching zum Dissertationsthema betrachtet. Er arbeitet freiberuflich beratend als Stadtplaner bundesweit, meist für Planungsbetroffene.
Dieser Text stammt aus dem Online-Magazin STANDPUNKTE 07./08./09.2022 zum Themenschwerpunkt “Münchens Stadtrand: bloßes Bauland oder mehr?”
2 https://www.pv-muenchen.de > Region München, Datengrundlagen 2020: https://www.pv-muenchen.de/fileadmin/Medien_PV/Leistungen/Daten_und_Studien/Regionsdaten/Regionsdaten_Datengrund_2020/REG_Datengrundlage_2020_Broschuere_frei.pdf
3 https://www.sueddeutsche.de/muenchen/gruenwald-erste-adresse-1.2941897
4 https://www.sueddeutsche.de/muenchen/gruenwald-erste-adresse-1.2941897, Stand Nov. 2015. Süddeutsche Zeitung, 8.4.2016: Grünwald – Erste Adresse
5 (nach: Umweltinstitut München e.V.: Infineon will im Grünzug Hachinger Tal bauen. Neue Unternehmenszentrale in Neubiberg. Münchner Stadtgespräche, Nr. 23/ Dez. 2001, S. 12- 14, Zitat S. 14)
6 zusammengezogen aus Campus und Infineon
7 Begründung zum Bebauungsplan, Neubiberg Nr. 64 „Campeon“, S. 20
8 Ottobrunn mit dem „Isarcenter“, derzeit in Erweiterung; Unterhaching mit dem Aldi an der Autobahnausfahrt, Putzbrunn mit Edeka, Aldi, Lidl im Gewerbegebiet West (attraktiv für Waldperlach, Neubiberg)
Bildquellen:
- Blick auf das Hachinger Tal aus der S-Bahn: Johann Hartl
- LaPark (Landschaftspark Hachinger Tal) ehemaliger Fliegerhorst: Johann Hartl
- Reste der Heeresmunitionsanstalt im Südosten des Landschaftsparks: Johann Hartl
- Stau-Spotting: Blick auf den zähflüssigen Verkehr Richtung Süden: Johann Hartl
- Campeon mit Wassergraben (Westseite): Johann Hartl
- Gewerbegebiet Brunnthal-Taufkirchen: Johann Hartl