Beteiligte, Verfahren und Konsequenzen
| Dr. Annemarie Menke |
1854 beginnt die Stadt München damit, Dörfer und Ansiedlungen in ihrem näheren Umfeld einzugemeinden – ein Prozess, der sich bis weit in das 20. Jahrhundert hinzieht |1| und unterschiedliche Themenfelder berührt. In diesem Beitrag soll es nur um das 19. Jahrhundert gehen, weil sich in dieser Zeit wichtige Aspekte beispielhaft aufzeigen lassen.
Allein im genannten Zeitraum, von 1854 bis zum 1.1.1900, verfünffacht sich die Bevölkerung der Landeshauptstadt, und auch die städtische Fläche wächst um mehr als 500%. Angesichts der heutigen Expansion Münchens durch neue Erschließungen, Umwidmung ehemaliger innerstädtischer Verkehrs- und Kasernenflächen sowie der engen Verbindung in das Umland stellt sich die Frage nach möglicherweise gleichbleibenden Problemen. Allerdings herrschen heute völlig unterschiedliche Bedingungen – ein derart sprunghaftes Bevölkerungswachstum gibt es nicht mehr, und die durch technische Innovationen ermöglichten fundamentalen Verbesserungen im hygienischen Bereich sind keine Beweggründe mehr für kommunale Partnerschaften. Das Problem unzureichender finanzieller Ausstattung der Kommunen für ihre Aufgaben mit der dadurch bedingten Anhäufung von Schuldenbergen besteht jedoch weiterhin, ebenso die Anziehungskraft moderner Städte durch technische Innovationen – etwa als „smart city“.
Am Anfang auch königliche Pläne
Im Oktober 1854 kommen als erstes drei neue Ortschaften dazu, die Stadt Au sowie Haidhausen und Giesing, deren Bewohner sich bereits im Mai 1848 fast einstimmig dafür ausgesprochen hatten |2|. Aus städtischer Sicht sind zwei ganz unterschiedliche Motivationen dafür verantwortlich – zuerst einmal das fundamentale Interesse an räumlicher, baulicher und industrieller Expansion wie auch an Verbesserung der dortigen Armenpflege |3|. Das zweite, ebenfalls entscheidende Motiv für die Eingemeindung der alten Handwerkersiedlungen liefert König Maximilian II., der mit der Errichtung einer weiteren stadtbestimmenden Achse München jetzt nach Osten öffnen will. Anders als sein Vater, der die Ludwigstraße als steinerne, repräsentative und überwiegend von funktionalen Bauten geprägte Erweiterung nach Norden im Stil italienischer Vorbilder anlegen ließ, gibt sein Sohn eine Verbindung in Auftrag, die zu bürgerlichem Promenieren einladen soll – mit Geschäften, Cafés und Restaurants sowie ursprünglich schattenspendenden Baumreihen. Besonders wichtig ist ihm aber die Einbindung der Isar und des gegenüberliegenden, als Park zu gestaltenden Hochufers in das Weichbild der Stadt, also um die bewusste Integration von Natur. Ursprünglich war vor allem Haidhausen geprägt durch die an den Stadtbächen angesiedelten Gewerke und galt wegen seiner ärmlichen Bevölkerung eher als ‚Glasscherbenviertel‘. Durch die Einbeziehung dieses Areals in die Hauptstadt öffnet sich also nicht nur der städtische Raum, sondern es erweitert sich in entscheidendem Maße auch das Bild der Stadt.
Geben und Nehmen
Nach zwei Eingemeindungen in den 1860er und 1870er Jahre (Ramersdorf und Sendling) potenzieren sich die Verfahren dann Anfang der 1890er Jahre – im Januar 1890 kommt Neuhausen dazu, im November desselben Jahres Schwabing, Bogenhausen wird im Januar 1892 und Nymphenburg mit Gern am 1.1. 1899 eingemeindet. Die Gründe dafür sind auch hier vielfältig. Allen Bestrebungen von Seiten der Gemeinden gemeinsam sind aber die Anforderungen, die aus der immens wachsenden Bevölkerung und der Notwendigkeit ihrer Grundversorgung in den unterschiedlichsten Bereichen resultieren. Als explizit kommunale Aufgaben erweisen sich eine funk-tionierende Wasserversorgung sowie Abwasser- und Müllentsorgung, die Bereitstellung von Strom und von Gas zur Straßenbeleuchtung sowie bezahlbarer Wohnraum, ausreichende Schulbauten, ein funk-tonierendes Verkehrsangebot und Möglichkeiten für Gesundheitspflege und Fürsorgeanstalten |4|. Durch kompetente Wissenschaftler und weitblickende Konzepte entwickelt München ab den 1880er Jahren fortschrittliche kommunale Versorgungsleistungen und wird dadurch höchst attraktiv für die Nachbargemeinden – etwa seit 1883 mit bestem Quellwasser aus dem 40 km südlich gelegenen Mangfalltal. Durch diese neuartige Wasserversorgung wird das zu diesem Zweck ursprünglich genutzte Muffatwerk am Auer Mühlbach für andere Aufgaben frei und kann nach Unterbringung weiterer Dampfmaschinen jetzt der Stromversorgung dienen. Dank des Hygienikers Max von Pettenkofer richtet München in den 1880er Jahren nicht nur einen zentralen Schlacht- und Viehhof, sondern auch ein leistungsfähiges Abwassersystem ein, sodass nicht wie bisher die offenen Stadtbäche zur Entsorgung genutzt werden, was häufige Choleraepidemien verursacht hatte. Vorerst eine private Firma, die Gasbeleuchtungsgesellschaft zu München AG, sichert ab 1848 die Beleuchtung der öffentlichen Straßen und Plätze, bis die Stadt im November 1899 diese Aufgabe selbst übernimmt. Ab 1897 wird der Hausmüll durch extra konstruierte sogenannte Harritschwägen abtransportiert, um dessen Verwertung sich die private Hausmüllverwertung München GmbH mit Sitz in Puchheim kümmert |5|.
Ende des 19. Jahrhunderts übernimmt die Stadt zunehmend diese kommunalen Aufgaben durch eigene Betriebe, was ihr Kontroll- und Gestaltungsmöglichkeiten und zum Teil erhebliche zusätzliche Einnahmen sichert. Allerdings reichen diese bei weitem nicht aus für die Palette neuer Aufgaben, vor allem, weil die unveränderten gesetzlichen Maßgaben zur kommunalen Steuererhebung den erhöhten Anforderungen keinerlei Rechnung tragen. Dabei reizt München durch erhebliche indirekte Steuern auf Grundnahrungsmittel mehr als die meisten anderen bayerischen Städte seine Möglichkeiten ohnehin schon weitestgehend aus |6|. Die durch das Bevölkerungswachstum gestiegenen Aufgaben und auch die in der Bewohnerschaft geweckten Erwartungen an zuverlässige moderne Versorgung überfordern die kleineren Gemeinden im Umland in noch stärkerem Maße, sodass das „Unterschlüpfen“ nach München für sie nur Vorteile bietet. So beklagt etwa die Gemeindeverwaltung Neuhausens 1878 die aufgrund vieler zugezogener Arbeiterfamilien stark gestiegenen Schülerzahlen, die die Einstellung von vier weiteren Lehrkräften sowie eigentlich ein neues Schulhaus erforderten, was die Gemeinde aber aufgrund des geringen Steueraufkommens vor größte Probleme stellt |7|. München selbst hat durch die Eingemeindungen zwar erheblich höhere Kosten, profitiert aber von der höheren Einwohnerzahl und dem dadurch erhöhten Steueraufkommen bzw. kann verhindern, dass sich gerade betuchte Bürger in den eher „grünen“ und erholsamen Nachbargemeinden wie Nymphenburg ansiedeln und dort steuerpflichtig werden. Finanziell nutzen ihr zudem bedeutende Produktionsstätten wie Krauss in Neuhausen und Maffei in Schwabing sowie die in Neuhausen ansässigen, für ganz Bayern zuständigen Kasernen mit ihren speziellen Zulieferbetrieben.

Landkreis München (Hrsg.), Lebensraum München. München 1985, S. 179. Reproduktion mit freundlicher Genehmigung des Landratsamtes München
Die Verfahren
Die Eingemeindungen folgen verschiedenen verwaltungstechnischen Schritten und haben neben wirtschaftlichen auch bedeutende rechtliche Konsequenzen. Zuerst einmal beruht das Verfahren in ländlichen Gemeinden auf der freiwilligen Zustimmung der betroffenen Bürger, und als Bürger gelten nur Männer mit Haus- und Grundbesitz sowie Gewerbesteuer zahlende Selbständige, die alle für Kommunalwahlen auch Wahlrecht besitzen|8| – in den Städten auf der Zustimmung von Magistrat und Gemeindebevollmächtigten |9|. Bürgerinnen gibt es nicht.
Teilweise fordern einzelne Bürger und bürgerschaftliche Vereinigungen explizit die Übernahme, und in Neuhausen plädieren beispielsweise sowohl die Vermögensverwaltung der Kgl. Bayerischen Staatseisenbahn als auch die Münchner Polizeidirektion aus verkehrs-, sicherheits- und gesundheitspolizeilichen Gründen für die Eingemeindung |10|. Trotzdem erweisen sich die Verfahren überwiegend als langwierig, etwa, weil die Eingemeindungspläne erhebliche Konsequenzen für den Wert der örtlichen Immobilien haben und mitunter heftigen Preissprüngen Vorschub leisten können, aber auch, weil die Stadt die hohen Kosten bei teils nur geringem Flächenzuwachs scheut. |11| Die Stadt besitzt zudem keine rechtliche Handhabe für Enteignungen; will sie etwa neues Bauland oder nötige Verkehrswege schaffen, muss sie das entsprechende Areal erwerben, was teuer und ebenfalls zeitraubend ist. Die zu vollziehende Übernahme benötigt die Zustimmung des Innenministeriums |12| wie des Prinzregenten und ordnet den neuen Stadtteil dem Distriktverwaltungsbezirk der Stadt München wie den dortigen Stadtrentämtern und dem örtlichen Amtsgericht zu. Der neue Stadtteil übernimmt damit alle für die Stadt München geltenden Gesetze, Verordnungen und sonstigen Vorschriften und gibt seine entsprechenden Rechte vollständig auf |13|.
Am Ende allein kommunale Planungen
Gerade die ganz unterschiedlichen Erweiterungen und Verdichtungen innerhalb der Stadt wie vor allem an den städtischen Rändern machen das Fehlen eines übergreifenden Konzepts für die Gesamtgestaltung Münchens zunehmend zum Problem. Ähnlich der Baukommission, die Max IV. Joseph ins Leben rief, um nach der Entfestigung der Stadt ihre bauliche und gestalterische Planung an einer Stelle zu bündeln, sucht man auch jetzt nach entsprechenden Instrumenten. 1891-93 führt die Stadt einen großen Wettbewerb „zur Erlangung von Vorschlägen für die Umarbeitung und Erweiterung des gesamten Stadtplanes“ |14| durch, bei dessen 13 Einreichungen einerseits technisch-verkehrliche, ‚geometrische‘, andererseits ästhetisch orientierte ‚romantische‘ Konzeptionen miteinander konkurrieren. Unterstützt durch Camillo Sitte als Jurymitglied, dessen Veröffentlichung „Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“ intensiv die begleitende Diskussion prägt, erweist sich trotz divergierender Beurteilungen der eingereichten Pläne das polyzentrale Entwicklungssystem von Karl Henrici, das sich stärker an Stadtbildern sowie der Zufriedenheit und den Nutzungen der Bewohner*innen orientiert, als letztendlich zukunftsweisend. Zur konkreten Umsetzung erfolgt 1893 die Einrichtung des Stadterweiterungsbüros, der ersten kommunalen Stadtplanungsbehörde Deutschlands. Mit Theodor Fischer als Leiter, einem Architekten, der auch die ästhetischen Qualitäten des öffentlichen Raums propagiert und einfordert, erhält die Gestaltung des „neuen Münchens“ ein tragfähiges und ablesbares Gesicht – nicht zuletzt durch seinen Staffelbauplan, der jahrzehntelang als Maßstab der hiesigen Stadtplanung dienen kann.
Die Autorin:
Annemarie Menke ist Kunsthistorikerin mit dem Schwerpunkt 19. Jahrhundert und Mitglied im Münchner Forum. Gemeinsam mit Udo Bünnagel leitete sie ab Februar 2020 bis Ende 2024 den Arbeitskreis ‚Kulturbauten‘, seit Januar 2025 gemeinsam mit Claudia Mann Dipl. Ing. FH. Architektin Denkmalpflegerin TU Dresden/Denkmalakademie.
|1| Zur Kernstadt 1854 und den jeweiligen Eingemeindungsgebieten siehe Abb. 1. Eine Liste mit den genauen Daten https://de.wikipedia.org/wiki/Eingemeindungen_in_die_Stadt_M%C3%BCnchen , abgerufen 31.07.2025
|2| https://de.m.wikipedia.org/wiki/Haidhausen , abgerufen 31.7. 2025
|3| Helmuth Stahleder, Vom Klosterhof zum Villenvorort. GERN und die Eingemeindung Nymphenburgs am 1. Januar 1899. München 1999, S. 6
|4| Im Artikel 38 der Gemeindeordnung von 1869 sind neben Gemeindegebäuden, Errichtung und Pflege von Ortsstraßen und Friedhöfen „öffentliche Brunnen, Wasserleitungen und Abzugscanäle“ als verpflichtend genannt; Gustav von Kahr, Bayerische Gemeindeordnung für die Landestheile diesseits des Rheins. Bd. 1, München 1896, S. 326f.
|5| Elisabeth Angermair, Münchner Kommunalpolitik. Die Residenzstadt als expansive Metropole, und Stichworte im Glossar, in: Friedrich Prinz, Marita Krauss (Hrsg.), München – Musenstadt mit Hinterhöfen. München 1988, S. 36ff., 380, 382
|6| ebda, S. 42
|7| Dagmar Bäuml-Stosieck, Großstadtwachstum und Eingemeindungen. In: Prinz/Krauss a.a.O., S. 64
|8| das sogenannte Zensuswahlrecht; 1902 waren das 4,7, 1906 5,8 Prozent der Gesamtbevölkerung Münchens; vgl. Stefan Fisch, Stadtplanung im 19. Jahrhundert. München 1988, S. 33 sowie Uli Walter, in: Die Prinzregentenzeit. Katalog Münchner Stadtmuseum 1988, hrsg. von Norbert Götz und Clementine Schack-Simitzis, S. 244; zu den weniger restriktiven Bedingungen bei Landtags- und Reichstagswahlen siehe erneut Angermair, a.a.O., S. 38
|9| Klaus Beichel, Das Verhältnis zwischen Staat und Gemeinden im rechtsrheinischen Bayern nach den Gemeindegesetzen von1808 bis 1869. Diss. Jur. Erlangen 1957, S. 87
|10| Heinrich Horn, Willibald Karl, Neuhausen. Geschichte und Gegenwart. Hrsg. von Richard Bauer. München (2) 1990, S. 35ff.
|11| Zum jahrelangen Hin und Her in Nymphenburg und Gern von 1884 bis 1899 vgl. Stahleder, a.a.O., S. 35f., 38f., 41-43, 77f.
|12| Beichel, a.a.O., S. 87
|13| Horn/Karl, a.a.O., S. 37
|14| Heinz Selig, Stadtgestalt und Stadtbaukunst in München 1860 bis 1910. München 1983, S. 102 mit Anm. 105; die detaillierten Wettbewerbsbedingungen S. 103f.
Dieser Text stammt aus dem Online-Magazin STANDPUNKTE 10./11./12.2025 „München und das Umland – Geschichte, Probleme, Perspektiven
Bildquellen:
- Die Belegschaft der Lokomotivfabrik Maffei in München mit der 500. Lokomotive eigener Produktion.: Josef Albert / Wikimedia Commons
- Landkreis München (Hrsg.), Lebensraum München. München 1985, S. 179. Reproduktion mit freundlicher Genehmigung des Landratsamtes München: Landratsamt München