Sind die „Quartiersbahnhöfe“ eine Chance für die IBA?

| Sylvia Hladky, Wolfram Liebscher, Maximilian Matheisen |

Nächster Halt „Quartiersbahnhof“ – so könnte es lauten, wenn bahnaffine Mobilität in der Metropolregion München mehr gesellschaftliche Aufmerksamkeit und politische Priorität bekäme.  Hat die Eisenbahn das Potential, eine umweltfreundliche Alternative zum Auto zu werden für die Mobilität in Stadt und Umland? Dafür soll das Experiment „Quartiersbahnhof Kolumbusplatz“ Interesse wecken.

Der Begriff Quartier bezeichnet meist die kleinste städtische Einheit – Wohnen, Arbeiten, Freizeit – Identifikation, Wohlfühlen und Lebensqualität. Ein Bahnhof bietet Fahrgästen  den Ein- oder Ausstieg in einen Zug – eine ideale Ergänzung im Umweltverbund mit zu Fuß Gehenden und Radfahrenden. Diese beiden Elemente sind nicht neu. Was bedeutet es, sie zu verknüpfen und neu zu beleben?

Das fragen Sylvia Hladky (MIN), Wolfram Liebscher (VCD) und Max Matheisen (MF) anhand der Idee eines Eisenbahn-Halts am Kolumbusplatz.

Wie viele Städte und Gemeinden hat sich München ambitionierte Ziele bezüglich Klima, Umwelt und Nachhaltigkeit gesetzt. Wesentliches Ziel ist es, die Emissionen im Verkehrssektor zu reduzieren. In einem autoaffinen Großraum wie der Landeshauptstadt München mit dem zersiedelten Umland gibt es wenige gute und attraktive Alternativen zur Mobilität mit dem Auto. Die Zweite Stammstrecke verspricht zwar Fahrzeitverkürzungen im Stadt-Umland-Verkehr, bringt aber keine einzige neue Fahrmöglichkeit  – und  verzögert sich um mehr als ein Jahrzehnt bis mindestens 2037. Wie lässt sich die Zwischenzeit bis dahin sinnvoll nutzen?

Eine Möglichkeit ist die Idee des Experiments „Quartiersbahnhof Kolumbusplatz“. Die Vision, einen S-Bahn-Ring in München zu bauen, gibt es schon lange – bisher leider nicht realisiert. Das „Fachgutachten Klimaneutralität 2035“ [fgkn] empfiehlt den „S-Bahn- Ausbau“  mit  „S-Bahn-Ring Süd, S-Bahn-Ring Nord“ als „Maßnahme V-2-3“ mit „sehr hoher Wirkung“ und „sehr hoher Priorität“. Warum nicht mit einem ersten Bahnhof an  diesen Strecken starten?

Ein Bahn-Halt am Kolumbusplatz – Aspekte einer Idee

Mit dem „Quartiersbahnhof“ lassen sich neue Erkenntnisse gewinnen

  • zu den Auswirkungen einer neuen Stadt-Umland-Verbindung auf den Modalsplit im Quartier
  • zu den Erfahrungen für die Stadtgestaltung des „Quartiersbahnhofs“ im Viertel
  • zu den Wünschen und Anforderungen der Menschen vor Ort
  • zur Zusammenarbeit der beteiligten Akteure in Politik, Verwaltung und mit den Betreibern

Bahnaffine Mobilität – eine Alternative für die Metropolregion?

Die gefühlte Wahrnehmung der Eisenbahn im urbanen Umfeld Münchens ist geprägt durch Ausfälle, Verspätungen, Störungen – Güterzüge auf Ost-, Süd- und Nordring und Großbaustellen am Hauptbahnhof und entlang des neuen Tieftunnels der Zweiten Stammstrecke. Was fehlt, ist eine Alternative mit positiver Wirkung: eine S-Bahn, die oberirdisch, wohnortnah, pünktlich und zuverlässig ist.

Ein Bahn-Halt am Kolumbusplatz – welchen Nutzen hat das für die Metropolregion?

Emissionen, Verkehrsmenge und Verdichtung sind wesentliche Gründe für das Ziel,  Fahrten mit dem Auto zu reduzieren und durch Verkehrsträger im Umweltverbund mit der Eisenbahn zu ersetzen. Der Beitrag eines einzigen neuen Bahnhofs im Gesamtnetz wird gering sein. Diese Fragen sind durch unabhängige Experten anhand repräsentativer  Zahlen, Daten, Fakten zu beantworten: In welchen  individuellen  Wegebeziehungen entsteht welcher verkehrliche Nutzen durch den „Quartiersbahnhof Kolumbusplatz“? Wie lassen sich die „Quartiersbahnhöfe“ im gesamten Netz und Takt der Metropolregion skalieren? Zu guter Letzt entsteht mit dem „Quartiersbahnhof Kolumbusplatz“ und der Poccistraße eine neue Isar-Querung für zu Fuß Gehende und Radfahrende – wenn sie die künftigen Bahnhöfe und eine kurze Fahrt nutzen.

Ein Bahn-Halt alle 20 Minuten am Kolumbusplatz – wie soll das funktionieren?

Das erklärt Wolfram Liebscher vom VCD wie folgt: Werden die Züge gezählt, die täglich   am Kolumbusplatz auf dem Südring vorbeikommen [vcd], entsteht der Eindruck, dass hier noch ungenutzte Lücken sind – trotz des unregelmäßigen Verkehrs von Güterzügen.

Diese zeitlichen Lücken auf der Strecke können von den Regionalexpress-Zügen von und nach Mühldorf und Rosenheim sinnvoll genutzt werden, um die  Züge  abbremsen, anhalten und weiter fahren zu lassen – der Ein- oder Ausstieg am Kolumbusplatz wäre möglich, wenn Bahnsteigkanten am Gleis realisiert werden: zum einen Teil auf der Hochbrücke, zum anderen Teil im Einschnitt bis zum Schmede-
rersteg. Eine neue Verknüpfung im MVV-Gesamtnetz zwischen Eisenbahn und U5 wäre das Ergebnis.

Ein Bahn-Halt am Kolumbusplatz – wie lässt sich Veränderung gemeinsam gestalten?

Wie gut Engagement vor Ort funktioniert, zeigt die Münchner Initiative Nachhaltigkeit mit ihren Projekten im Straßenraum des Westends [min]. Der Schlüssel zu Akzeptanz, Identifikation und im besten Fall Begeisterung sind Ansprache, Dialog und Diskussion. Mit Zuhören und Fragen lässt sich die Bürgerschaft beteiligen: Wie wird der  „Quartiersbahnhof“ zu „unserem Bahnhof“ in der Metropolregion? Welche Anforderungen und Wünsche haben Bürgerinnen und Bürger vor Ort an den „Quartiersbahnhof“? Laut Presse ist der Kolumbusplatz mit einem Eisenbahn-Halt schon länger Thema im Bezirksausschuss 5 Au-Haidhausen – die Anträge wurden  wiederholt  positiv aufgenommen [risi] – passiert ist seitdem wenig.

Warum nicht mit Provisorien starten – und verstetigen?

Die Internationale Bauausstellung erscheint uns mit dem Zeithorizont von zehn Jahren ideal, eine solche Idee zur Umsetzung zu bringen. So sagt es Sylvia Hladky von der MIN. Hier besteht jetzt die Chance, die Zwischenzeit bis zur Inbetriebnahme der Zweiten Stammstrecke sinnvoll zu nutzen, um die Mobilität in der Metropolregion wirksam zu verändern und nutzbringend zu verbessern.

Die Idee ist da – wer möchte sie aufgreifen?

Als ein Beispiel für die zukunftsfähige Gestaltung neuer und existierender Bahnhöfe in Stadt und Umland steht der „Quartierbahnhof Kolumbusplatz“ – und als Blaupause für die Vervielfältigung an anderen Orten in der Metropolregion. Das möchten die Autoren dieses Artikels anregen und wünschen sich, die „Quartiersbahnhöfe“ weiter zu entwickeln in einem Dialog mit den Menschen in der Metropolregion, dem Freistaat Bayern und der Deutschen Bahn.

Die Voraussetzungen am Bahnknoten München

München hat durch mindestens zwei historische Entscheidungen heute nicht die besten Voraussetzungen, ein gutes oberirdisches und polyzentrisches Nahverkehrssystem auf der Schiene zu etablieren:

Die Güterzüge vom und zum Rangierbahnhof München Nord rollen über die Gleise von Ost-, Süd- und Nordring. Das erschwert eine Befähigung für polyzentrischen öffentlichen Personennahverkehr auf der Schiene erheblich.

Der Tieftunnel der Zweiten Stammstrecke bindet finanzielle Mittel, Kapazitäten und Ressourcen in der Planung und Umsetzung über zwei Jahrzehnte – bei fraglichem Nutzen/Kosten Verhältnis.

Positive Erscheinungsbilder inspirieren – die Möglichkeiten der Eisenbahn im urbanen Umfeld

München Arnulfsteg

Abb. 1 München Donnersberger Brücke – abzüglich des wenig funktionalen Brutalismus-Stils eine Blaupause für Vervielfältigungen?

München Donnersberger Brücke: Ist Perfektion der Anspruch? [Abb. 1]

An diesem S-Bahn-Halt hat München selbst ein erstes Beispiel für einen „Quartiersbahnhof“ geschaffen – obwohl nicht überall funktional aufgrund steiler Treppen und fehlender Fahrstühle. Die Erschließung der Büro- und Wohngebiete nördlich und südlich des S-Bahn-Halts hingegen kommen einem Idealbild sehr nahe.

Das Wachstum Münchens ist polyzentrisch – und oft in Gleisnähe

Nicht nur entlang der zentralen Bahnachse ist in den letzten Jahrzehnten ähnliches Wachstum passiert. Entlang der Infrastruktur des Süd- und Nordrings sind Produktions-   und Lagerflächen de-industrialisiert, im Flächennutzungsplan umgewidmet und mit Büro- und Wohnraum, Tiefgaragen und Parkhäusern neu bebaut worden. Einer dieser Orte wäre der „Quartiersbahnhof Kolumbusplatz“.

Bahnhalt Klasdorf Glashütte

Abb. 2 Klasdorf – dreimal täglich in die Hauptstadt nach Berlin dank einer engagierten Bürgerschaft.

Klasdorf Glashütte: Eine aktive Bürgerschaft schafft Lösungen [Abb.2]

Dieser Bahn-Halt zeigt, wie wirksam das Engagement einer aktiven Bürgerschaft vor Ort sein kann: Die etwa 70 km entfernte Hauptstadt Berlin ist aktuell weiterhin dreimal täglich durchgehend in etwa 70 Minuten erreichbar. Der Bahn-Halt wurde beibehalten und modernisiert – die Deutsche Bahn hat immer wieder vor, diesen zu streichen. Klasdorf liegt an der Strecke 6135 Berlin – Dresden. [maz]

Passau Rosenau

Abb. 3 Passau Rosenau – provisorisch installierter Behelfsbahnsteig in Gerüstbauweise.

Passau Rosenau: Provisorien gibt es – und sie funktionieren [Abb. 3]

Dieser Zug-Halt zeigt, dass Provisorien als erste Realisierung funktionieren, wenn es schnell und günstig sein muss und qualitative Einschränkungen zeitlich begrenzt akzeptabel sind – ein idealer Ausgangspunkt für kontinuierliche Verstetigungen. Der Bahnsteig in Gerüstbauweise liegt an einem Gleis, das für Museumsfahrten genutzt wird an der Strecke 5843 Passau – Hauzenberg. [lhp]

Kopenhagen Carlsberg

Abb. 4 Kopenhagen Carlsberg – ein urbaner Zughalt im Brauerei-Quartier mit bike&rail aus kostenoptimalen Systemelementen.

Kopenhagen Carlsberg – Funktion vor Fassade [Abb. 4]

Diese S-Bahn Station zeigt, wie urbane Großräume mit funktionalen und kostenoptimalen Systemelementen entwickelt werden können. Ähnlich dem Nockherberg ist Carlsberg ein historischer Brauereistandort und heute weitgehend de-industrialisiert und neu entwickelt. In diesem dezentralen, durch Büro-, Wohn- und Freizeitflächen geprägten Quartier funktioniert die Mobilität mit Eisenbahn, Rad- und Fußverkehr. Die Bahnstrecke ist im Gegensatz zu der am Nockherberg viergleisig und der Einschnitt ist großzügiger, was die Realisierung der S-Bahn-Station begünstigte.

Diese Beispiele sind nicht direkt und 1:1 übertragbar

Jetzt sind Akteure vom Fach dazu gefragt, was getan werden muss, um die Vision der „Quartiersbahnhöfe“ in der Metropolregion zu realisieren. Die Vorteile der Zersiedelung dürfen nicht die Nachteile der Stadtgesellschaft werden – neue Parkplätze und Tiefgaragen schaffen neuen Autoverkehr in der Landeshauptstadt. Ein „Quartiersbahnhof“ wäre ein Anfang, das Prinzip der Bahn-affinen Mobilität im Umweltverbund präziser zu durchdenken und konsequent umzusetzen. Die Deutsche Bahn versteht sich als Lieferant der Politik. Deshalb kann der Anschub für mehr Eisenbahn und bessere Eisenbahn nur aus der Gesellschaft kommen.

Autorin und Autoren:

Sylvia Hladky vertritt die Zivilgesellschaft im Klimarat der Landeshauptstadt München und leitet die Manufaktur Mobilität der Münchner Initiative Nachhaltigkeit. In ihrer beruflich aktiven Zeit war sie verantwortlich für den Aufbau des Verkehrszentrum des Deutschen Museums und 15 Jahre dessen Leiterin.

Wolfram Liebscher ist Sprecher im Vorstand des Verkehrsclubs Deutschland in München. Kürzlich umgesetzte Qualitätsverbesserungen bei der Münchner S-Bahn gehen auf eine Idee des VCD zurück.

Max Matheisen ist Mitglied im Münchner Forum und aktiv in Arbeitskreis ‚Schienenverkehr‘ und Programmausschuss. Beruflich ist der Dipl.-Ing. (FH) Produktentwicklung im Anforderungsmanagement tätig.

 

Zum Weiterlesen:

[fgkn] Fachgutachten Klimaneutralität 2035 https://www.oeko.de/fileadmin/oekodoc/Massnahmenplan-Klimaneutralitaet-Muenchen.pdf Seite 25/26 und 119 „Maßnahme V-2-3 Planung S-Bahn-Ausbau“

[min] Münchner Initiative Nachhaltigkeit https://www.m-i-n.net/manufaktur-2/

[vcd] Verkehrsclub Deutschland Kreisverband München e.V. https://www.vcd-muenchen.de/dabei-sein-suedring-exkursion-am-19-november/

[risi] RatsInformationsSystem München

Bahnhaltepunkt Kolumbusplatz – Antrag vom 15.11.2023 [eigtl. Antrag fehlt hier] https://risi.muenchen.de/risi/antrag/detail/8075287

Provisorischer Regionalbahnhalt Kolumbusplatz – Nachfrage vom 21.03.2023 (SPD GRÜNE) https://risi.muenchen.de/risi/antrag/detail/7630491

Provisorischer Regionalzughalt Kolumbusplatz – Erinnerung vom 27.04.2022 (SPD GRÜNE) https://risi.muenchen.de/risi/antrag/detail/7105576

Nahverkehr in der Au und Untergiesing optimieren: Bahnhalt am Kolumbusplatz möglich? – weiterer Antrag vom 06.04.2022 (CSU/FW) https://risi.muenchen.de/risi/antrag/detail/7118801

Bahn-Haltepunkt Kolumbusplatz – Erstantrag vom 30.01.2020 (SPD GRÜNE) https://risi.muenchen.de/risi/antrag/detail/5886081

[maz] Märkische Allgemeine Zeitung – Klasdorf Ein Dorf fühlt sich abgehängt https://www.maz-online.de/lokales/teltow-flaeming/ein-dorf-fuehlt-sich-abgehaengt-BNQ64Z6JPMLSAMUFHAZQAPWUZA.html

[lhp] Förderverein Lokalbahn Hauzenberg-Passau e.V. – Fahrten der Granitbahn 2024 https://static1.squarespace.com/static/621b9c56ec92b63903b27f09/t/6622595c35164c7c6bacdd54/1713527133036/Granitbahn_Flyer_2024.pdf  und https://lokalbahn-hauzenberg.de/  

 

Dieser Text stammt aus dem Online-Magazin STANDPUNKTE 07./08./09.2024 zum Themenschwerpunkt “Die IBA: Hintergrund, Gedanken und Projektvorschläge”

 

Bildquellen:

  • München Kolumbusplatz: M. Matheisen
  • Abb. 1 München Donnersberger Brücke – abzüglich des wenig funktionalen Brutalismus-Stils eine Blaupause für Vervielfältigungen?: M. Matheisen
  • Abb. 2 Klasdorf – dreimal täglich in die Hauptstadt nach Berlin dank einer engagierten Bürgerschaft.: M. Matheisen
  • Abb. 3 Passau Rosenau – provisorisch installierter Behelfsbahnsteig in Gerüstbauweise.: M. Matheisen
  • Abb. 4 Kopenhagen Carlsberg – ein urbaner Zughalt im Brauerei-Quartier mit bike&rail aus kostenoptimalen Systemelementen.: M. Matheisen
WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner