Ein Rückblick
| Anna-Lena Genz |
Der eine oder die andere wird sich sicher daran erinnern, als am 14. Juni dieses Sommers die Fußball-Europameisterschaft (EM) mit dem Spiel zwischen Deutschland und Schottland in München eröffnet wurde. Die Vorfreude der Fans erlebte man in einigen eindrücklichen Szenen: Schottische Fußballfans, die frei nach dem Motto „No Scotland, no party!“ ausgelassen in der ganzen Stadt feierten und auf dem Weg zur nächsten Location auch mal vollkommen orientierungslos mit Blick auf die Handynavigation quer über eine Kreuzung spazierten. Oder auch die vielen deutschen Fans, die mit Gesängen wie „Pyrotechnik ist doch kein Verbrechen!“ und in kostenlosen Werbetrikots von „Check24“ gekleidet zielstrebig ins Stadion oder zur nächsten Fanmeile schwärmten – ein sogenanntes Fußballfest.
Wer zu spät dran war, musste feststellen, dass die Fanzone im Olympiapark bereits wegen Überfüllung geschlossen war und auch die umliegenden Biergärten nur noch Stehplätze ohne Sicht auf die Leinwand übrig hatten. Aber das Fußballfest sollte sich ja über die nächsten Wochen erstrecken und zahlreiche Möglichkeiten zum Mitfiebern bieten, darunter sechs Spiele in der Münchner Allianz Arena.
Was macht eine Großveranstaltung mit der Stadt?
Wissenschaft und Medien blicken immer wieder auf die Auswirkungen, die Großevents auf den jeweiligen Austragungsort haben. So entstehen beispielsweise Begriffe wie das „Mega-Event-Syndrom“. |1| Auch hier in München sind die positiven wie negativen Langzeitfolgen der Olympischen Spiele 1972 heute nachvollziehbar. Und obwohl die Fußball-Europameisterschaft sich nicht in München zentriert abgespielt hat, kann man sich fragen, was bei diesem sommerlichen Großevent in der Stadt passiert ist und wo es im Alltag spürbar wurde.
Emotionale Aufladung
Gerade sportliche Ereignisse haben die Eigenschaft, den urbanen Raum mit Emotionen aufzuladen und zu überziehen. Wo im Alltag Berufsverkehr stattfindet, fährt nach dem Spiel ein Autokorso. Wenn im Biergarten sonst jede Gruppe unter sich bleibt, bricht beim Sieg der favorisierten Mannschaft gemeinsamer Jubel los. Aus kulturwissenschaftlicher Sicht beschreibt Jochen Kotthaus den kollektiven Jubel im Fußball als Ritual, welches Geschlossenheit ausdrücken soll und das Erlebte intersubjektiv, also in der Gruppe, verstehbar macht. Der Jubel ist dabei, so Kotthaus, in den institutionalisierten Kontext des (Fußball-)Sports eingebunden und Teil einer rituellen Handlungsfolge. |2| Auch der Park, in dem normalerweise einzelne spazieren gehen, kann zum Austragungsort von Ritualen der Vorfreude, z. B. eines Fanmarsches, werden, wie es uns die niederländischen Fans in ihrer hopsenden orangenen Masse gezeigt haben. |3| Aber nicht nur die Freude wird im öffentlichen Raum spürbar, auch der Frust nach der Niederlage kann sich nach außen übertragen und in Spannungen und Aggression oder in gemeinsamer Trauer enden.
Entstehung von Angsträumen
Durch diese Austragung von Emotionen im öffentlichen Raum entstehen für Unbeteiligte, Frauen oder marginalisierte Menschen oft neue Angsträume. Über Angsträume schreibt Uta Döring: „[Sie] lassen sich schwer kategorisieren und sind in ihrer Wahrnehmung abhängig von Alter, Geschlecht und von der sozialen Gruppenzugehörigkeit. Bei einem Aufenthalt dort steht die Angst vor Raubdelikten und vor Gewaltdelikten wie Körperverletzung oder Sexualdelikten im Vordergrund.“ |4| Wenn beispielsweise die U6 in Richtung der Allianz Arena auf einmal voll ist mit alkoholisierten grölenden und vorrangig männlichen Fußballfans, kann die Fahrt schon einmal zur Zerreißprobe für die Nerven werden. Es ist bekannt, dass unter den Anhängern des Sports auch Hooligans und Menschen mit nationalistischen oder rassistischen Einstellungen sind. So berichtet die Süddeutsche Zeitung am 26. Juni von vermehrten Vorfällen mit Extremisten und Identitären verschiedenster Nationalitäten während der EM und von der Rekrutierung unter jungen Männern. |5| Für People of Colour (PoC) kann eine solche Häufung rechter Gesinnungen zu bedrohlichen Situationen und Angst führen.
Sichtbarkeit
Durch das Fan-Sein bei einem sportlichen Wettbewerb auf internationaler Ebene wird auch die Diversität der Migrationsbiografien innerhalb der Stadtbevölkerung sichtbar. Beispielsweise waren in München auch beim Spiel Georgien gegen Türkei die Biergärten voll. Die Migrationsforschung definiert hier zwei Aspekte des Wunsches nach symbolischer Anerkennung im Verhältnis zwischen Eingewanderten und Aufnahmegesellschaft: den Kampf um Gleichheit und das Recht auf Differenz. |6| Durch das Tragen der Trikots und Fahnen der verschiedenen Herkunftsländer zur EM findet die städtische Migrationsgesellschaft einen Ausdruck des Rechts auf Differenz.
Tourismus
Nicht zu vernachlässigen sind natürlich die wirtschaftlichen Effekte von Großveranstaltungen auf eine Stadt – allen voran der Tourismus. Schon bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 lautete der Slogan „Die Welt zu Gast bei Freunden“. Dahinter lag unter anderem die Hoffnung, das Image von Deutschland als attraktives Reiseziel zu stärken. Die Süddeutsche Zeitung berichtet am 21. August, dass die Stadt München im gesamten ersten Halbjahr 2024, aber insbesondere während der EM Rekorde verzeichnet. Im Juni waren es 1,8 Millionen Übernachtungen. Die schottischen Fans waren wohl diejenigen mit den meisten Übernachtungen – daher vielleicht auch ihre auffallende Präsenz im öffentlichen Raum. |7| Motive für Tourismus während sportlicher Großveranstaltungen, wie der EM in München, variieren vom Stadionbesuch über den Besuch der Fanmeile am Austragungsort bis hin zur Teilnahme an Partys und Nachtleben oder auch die Verbindung mit einem Besuch. |8|
Auslastung/Überlastung der Infrastruktur
Verstärkt im Alltag spürbar wird das Stattfinden einer Großveranstaltung dann, wenn die Infrastruktur betroffen ist, die wir jeden Tag benutzen. Die Eröffnung des Turniers in München stellte dabei eine besondere Auslastung der öffentlichen Räume und damit auch des ÖPNV dar. Die Süddeutsche Zeitung berichtet in diesem Zusammenhang von einem „überfüllten“ Marienplatz und der „Schließung“ der Fanzone im Olympiapark. Aufgrund des hohen Andrangs bat die Stadt München die Menschen darum, sich auf andere Teile der Stadt zu verteilen. |9|
In den darauffolgenden Wochen waren U-Bahnen und andere Transportwege vor allem an den Spieltagen in München voll, an denen die Fans sich Richtung Stadion und Fanzone bewegten. So konnte es vorkommen, dass man eine Bahn ausfallen lassen musste oder Straßen nicht befahrbar waren, wegen durchfahrender Autokorsos. Auch ein fußballfreier Biergartenbesuch konnte zufällig mit Ansammlungen von Fans kollidieren und erschwert werden.
Eine weitere öffentliche Infrastruktur, die über Wochen hinweg blockiert wurde, waren der Olympiapark und seine Durchgangswege. Ob Einzelpersonen beim Joggen oder Schulklassen, die von A nach B gelangen wollten, alle mussten zeitweise andere Wege finden, da die Fanzone mit Sicherheitsleuten an den Eingängen nicht zugänglich war.
Das Public Viewing von Fußballspielen im Olympiapark hat eine Tradition, die 2006 während der Fußball-Weltmeisterschaft zum Eröffnungsspiel in der Allianz Arena als Tradition begründet wurde, so berichten Kay Schiller und Christopher Young. Seitdem fanden sich im Zweijahresrhythmus der Fußballturniere Tausende im Olympiapark zusammen, um mitzufiebern und den Sport gemeinsam als Teil einer „global community“ zu feiern. |10| Die Verortung der Münchner Fanmeile im Olympiapark fußt dabei auf der nachhaltigen Landschaftsarchitektur von Günther Grzimek. „Wie der Designer [Aicher] interessierte sich auch Grzimek weniger für Kunst, in seinem Fall Gartenkunst, sondern für die Gestaltung des Alltags, der menschlichen Umgebung, der industriellen Kultur und des Habitus der Gesellschaft schlechthin.“ |11| Durch seine vorausschauende Planung der Grünanlage mit privaten und öffentlichen Hügeln und Wiesen, entlang der gesellschaftlichen Bedürfnisse, wird eine solche Nutzung bis heute ermöglicht.
Kommerzialisierung öffentlicher Räume
Während man beim Public Viewing 2006 schon vereinzelt mit den Werbeständen der Sponsoren des Turniers konfrontiert war, findet heute eine Flut an Werbung statt. Mit dem Fußballsport allgemein werden hier auch der öffentliche Raum und die Teilhabe an der Veranstaltung kommerzialisiert. Ein Phänomen, das in den letzten Jahren verstärkt erforscht und auch kritisiert wird. So schreiben Brandmaier und Schimany in ihrem Buch „Die Kommerzialisierung des Sports“ bereits 1998: „Im Bereich des Spitzensports und ansatzweise im Leistungssport wird der sportliche Output zunehmend kommerziell überformt durch den Verkauf von Eintrittskarten, die Vergabe von Eigentums-, Übertragungs-, Werbe-, Veranstaltungs- und Lizenzrechten, den Verkauf von Fanartikeln sowie die Gastronomie bei großen Sportveranstaltungen.“ |12| Für das Fortschreiten dieser Entwicklung war die EM-Fanzone im Olympiapark 2024 mit internationalen Werbeträgern wie beispielsweise Alipay, Hisense oder Sportwettenanbieter Betano leider ein aktuelles und akkurates Abbild.
Fazit
Natürlich ist es wichtig, dass Großveranstaltungen weiterhin stattfinden können, auch im städtischen Raum. Großveranstaltungen und das Mitfiebern im sportlichen Wettbewerb stellen ein Gefühl von Gemeinschaft her. Das kann dann funktionieren, wenn diese Gemeinschaft die dadurch entstehende Belastung für einzelne mitträgt und die oberste Priorität eine Kollektiverfahrung und nicht der Kommerz und finanzielle Gewinne sind. In einem rücksichtsvollen Miteinander sind auch der versperrte Weg oder eine überfüllte U-Bahn kein Problem – man wartet ja notfalls gerne auf die nächste, oder?
Die Autorin:
Anna-Lena Genz studierte Medienkultur (B.A.) und empirische Kulturwissenschaften (M.A.). Seit 2024 ist sie Projektreferentin in der Geschäftsstelle des Münchner Forums und Mitglied der Standpunkte-Redaktion.
|1| Müller, Martin (2015): Das Mega-Event-Syndrom. Weshalb Großveranstaltungen so problematisch sind – und was sich ändern sollte. In: Standort 39. S. 120-126, Springer Verlag, Berlin/Heidelberg, S. 120.
|2| Kotthaus, Jochen (2017): Das Ritual des Jubels im Fußballsport. In: Sozialer Sinn 2017; 18(2): 341-370, De Gruyter, Oldenbourg, S. 343.
|3| SZ (02.07.2024): „Naar links! Naar rechts!“: So hopsen die niederländischen Fans durch München. URL: https://www.sueddeutsche.de/muenchen/fussball-em-2024-niederlande-rumaenien-muenchen-oranje-olympiapark-fanmarsch-lux.3zCVU3Snocbd5cPVuN3NvL
|4| Döring, Uta (2008): Angstzonen. Rechtsdominierte Orte aus medialer und lokaler Perspektive. VS Verlag für Sozialwissenschaften / GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden, S. 97.
|5| SZ (26.06.2024): Nicht nur bunt und friedlich: EM auch Bühne für Extremisten. URL: https://www.sueddeutsche.de/sport/fussball-nicht-nur-bunt-und-friedlich-em-auch-buehne-fuer-extremisten-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-240626-99-539673
|6| Schwenzer, Victoria / Selmer, Nicole (2010): Fans und Migration. In: Jochen Roose, Mike S. Schäfer, Thomas Schmidt-Lux (Hrsg.): Fans. Soziologische Perspektiven. S. 387-413, VS Verlag für Sozialwissenschaften / Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, S. 387 f.
|7| SZ (21.08.2024): 8,7 Millionen Übernachtungen in sechs Monaten. URL: https://www.sueddeutsche.de/muenchen/muenchen-tourismus-erstes-halbjahr-2024-zahlen-rekorde-lux.9LdUaZjxnBvNqsindMj4Th
|8| Tödter, Norbert / Bangerth, Melanie (2009): Die FIFA Fussball-WM 2006TM: ein Erfolgsfaktor für den Deutschland-Tourismus. In: Bogusch, Stephan / Spellerberg, Annette / Topp, Hartmut H. / West, Christina (Hrsg.): Organisation und Folgewirkung von Großveranstaltungen. Interdisziplinäre Studien zur FIFA Fussball-WM 2006™, S. 23-40, VS Verlag für Sozialwissenschaften / GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden S. 27.
|9| SZ (14.06.2024): Marienplatz in München „überfüllt“ – Fanzone vor Schließung. URL: https://www.sueddeutsche.de/sport/euro-2024-marienplatz-in-muenchen-ueberfuellt-fanzone-vor-schliessung-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-240614-99-396057
|10 & 11| Schiller, Kai / Young, Christopher (2012): Fanmeile im Grünen. Zur Ästhetik von Münchens Olympiapark. In: Forum Stadt. 39. Jahrgang, 2/2012, S. 121-132, Forum Stadt Verlag (FStV), Stuttgart, S. 122 & 128.
|12| Brandmaier, Sonja / Schimany Peter (1998): Die Kommerzialisierung des Sports. Vermarktungsprozesse im Fußball-Profisport. LIT Verlag, Hamburg, S. 19.
Dieser Text stammt aus dem Online-Magazin STANDPUNKTE 10./11./12.2024 zum Themenschwerpunkt “München und der Sport”
Bildquellen:
- EM-Fanzone im Olympiapark: Münchner Forum
- Public Viewing im Biergarten beim Eröffnungsspiel der Fußball-EM: Münchner Forum