Darf man das denn?

| Annette Rinn |

Im ersten Pandemie-Herbst packte ich Campingtisch mit Stühlen auf mein Radl und setzte mich mit Freundinnen zu Mittagessen oder Tee auf den Gehsteig, auf Grünstreifen oder Parkplätze. Die häufigste Frage der Passanten war: Darf man das denn? Als Antwort darauf, und um Claudia Dörings Stuhldisteln (chairwalk, Wohnzimmer im Tal) zukunftsfähig umzusetzen, begannen wir mit der Entwicklung einer neuen StraßenBedarfsOrdnung (StraBeO), die über der Straßenverkehrsordnung (StVO) stehen sollte. Wir sind erst am Beginn dieses Transformationsprozesses. Mit Ihnen gemeinsam wollen wir herausfinden, was eine StraBeO beachten muss.

Entlernen

Mit dem Erhalt des Führerscheins werden wir quasi erwachsen, wir dürfen uns nun mit vielen Pferdestärken auf Verkehrsflächen von A nach B bewegen und schwere, oft gefährliche Güter per LKW transportieren. In den (Stadt-)Planungen haben die PKWs und ihre Standplätze meist erste Priorität. Wir passen uns brav an, die (Auto-) Mobilität geht immer vor, daran ändert auch das E-Auto nichts.
Gesetzesverstöße, auch ohne Auto, werden oft mit dem Entzug der Fahrerlaubnis geahndet. Ein Drittel der bebauten Fläche ist Verkehrsfläche. Das Verhältnis Platzbedarf von PKW zu Mensch beträgt 290 zu eins.
Straßenbau zusammen mit der StVO ist gebaute Macht, und wir alle lernen die Überlebenstechniken auf der Straße.
Das ist fest einbetoniert in unseren Köpfen. Anders als freie Nomaden haben wir nicht gelernt, den Raum zwischen unseren Immobilien kreativ zu nutzen. Daher müssen wir die StVO „entlernen“ und uns überlegen, was wir in unseren Straßen machen wollen und was derzeit eine Ordnungswidrigkeit wäre. Ein Denken ohne Geländer zu einem anderen Umgang mit Freiraum. Statt der Verkehrsberuhigung mit Fußgängerzonen wollen wir eine Intensivierung des Freiraumgebrauchs für alle. Klimawandel und neue Lieferverkehrssysteme unterstützen diese Transformation. Die Machtverhältnisse auf der Straße verschieben sich gerade. Überall entstehen neue Mobilitätsreferate, die Superblocks in Barcelona sind weltweites Vorbild, Zürich hat mit seinem historischen Parkplatzkompromiss die Zahl der Stellplätze auf dem Stand von 1990 gehalten, und wegweisende Maßnahmen drängen in Italien den PKW-Verkehr stark zurück.
Städtenetzwerke erreichen durch den Zusammenschluss von Kommunen in Brüssel mehr Gehör, kennen ihre Bedürfnisse, Probleme und Grenzen – und ändern die gesetzlichen Vorgaben. Doch was tun wir mit dem Freiraum? Die Transformation muss in den Köpfen aller stattfinden, denn nun eröffnen sich ungeahnt mehr Möglichkeiten als in einer klassischen Fußgängerzone. Hier eine kleine Bedienungsanleitung für den Gebrauch der Straße.

Gefahrenhinweis

Vorsicht! Möglicherweise bleibt bei der Anwendung des Konzepts neue StraBeO nichts mehr, wie es war!

Auspacken der mitgelieferten Komponenten
Ressourcen: frei werdende Flächen
Natur & Freiflächen: Topfpflanze
Straßengeschichte: Bierkrug
Energie/Klimawandel: Solarlader
Mobilität: Solarhelikopter
Diversität: München ist bunt

Einsatzmöglichkeiten

  • Kreativer Prozess für diverse Nutzungen auf öffentlichen Freiflächen
  • Begrünung, Optimierung der thermodynamischen Effizienz (Schatten), Luftreinigung, Regenschutz und Regenerationsflächen ohne Konsum
  • Hyperkonnektivität (digitale Vernetzung) von Innovationen bei Transport und Lieferung
  • Diskussionsorte, Dinge auf neue Weise betrachten, Navigationshilfen
  • Urbane Vitalität zu allen Jahreszeiten stärken, Starkregenschutz
  • Nachhaltige Mobilität fördern (zum Beispiel Leihräder, Radlgaragen, Rikschas)
  • Verbesserung aller urbanen Prozesse (Beleuchtung, clevere Mülltonnen)
  • Wasser, vertikale Gärten, Westentaschenparks, Wildtierkorridore

Installationsmaßnahmen

  • Der Mensch anstelle des privaten PKWs muss in den Mittelpunkt aller Planungen. Wir brauchen eine langfristige Gesamtphilosophie und ein vernetztes Systemisches Denken.
  • Partizipationsmöglichkeitsräume
  • Stadt als Labor und Pattern Language
  • Hamburg: Universität der Nachbarschaften
  • Stuhldistel-Workshops, vor Ort
  • Ideenwerkstätte mit Nutzenden und Verwaltenden
  • Intelligente Energie- und Mobilitätssysteme

Wartungsanleitung

Es gilt, die Resilienz der Stadt zu stärken (Schwammstadt), historische und kulturelle Besonderheiten hervorzuheben, die Partizipation und Steuerung der urbanen Prozesse zu verbessern, die Bildung zur nachhaltigen Entwicklung und Katastrophenvorsorge lokal zu entwickeln. Außerdem brauchen wir Nachhaltigkeit in Konsum und Produktion statt stehenden Blechkarossen, Orte der Ruhe, Raum für Gemeinsamkeit, Feiern, Minisportplätze und IHRE neuen Ideen.
Denn die technologische Straßeninfrastruktur und die Änderung der Gesetzgebung bewegen noch gar nichts.
Sie sind nur ein Werkzeug. Es braucht Fantasie, Hirn, Herz und andere Lebensstile.

Verhalten bei Störfällen und Bedienungsfehlern

Hierfür benötigen wir mehr Suffizienz: langsamer, weniger, besser, schöner oder Entschleunigung, Entflechtung, Entrümpelung, Entkommerzialisierung. Wir sollten diese als selbstlernend, robust, selbstreparierend und selbstreproduktiv ausbilden.

Reklamationen

Sehen wir nach, was in unserem eigenen inneren Straßen-Bedarfs-Schein steht: ICH DARF DAS! Oder wir lernen dies bei einem unserer nächsten Workshops zur Entwicklung der neuen StraBeO.
Jetzt wollen wir mit IHNEN zusammen herausfinden, was uns zu den vier StraBeO-Nutzungen einfällt. Lasst uns wagen, andere Nutzungen zu denken. Ich übergebe an Maren.

Autorin:
Annette Rinn studierte Architektur, Grünplanung, Philosophie in München, London und Denver. Seit Mitte der 80er-.Jahre Leitung Planungsgruppe Rundum, Planungsbüro für Nachhaltiges Bauen, begleitend dazu Masterstudium Ökonomie M.Sc. Aktueller Schwerpunkt: Bildung für Nachhaltige Entwicklung, aktive Vorständin bei HEi München und BenE-München e.V.

 

Dieser Text stammt aus dem Online-Magazin STANDPUNKTE 01./02./03.2024 zum Themenschwerpunkt “Öffentlicher Raum”

 

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