Am Beispiel des Planungsvorlaufs zu Freiham wurde uns zudem deutlich, dass der Mangel an städtebaulichem Charisma auch das Ergebnis von Pragmatismus und Routinen aller Beteiligten, auch der Verwaltung, sein kann, unter denen ursprüngliche Konzeptansätze abgeschwächt werden und auch Beteiligungsverfahren ins Leere laufen können. Es schien uns, dass prinzipielle Fragen, wie die nach dem Gesamtzusammenhang dieses peripheren Quartiers mit der Stadt und seiner Identität als urbaner Raum im dichten Stadtgefüge Münchens nicht deutlich genug gestellt wurden und daher den Routinen auch nicht die Richtung weisen. Bei der Entwicklung der letzten Flächenreserven Münchens für den Wohnungsbau sollen nach Vorstellung des AK daher die Fragen nach dem identitätsbildenden städtischen Gesamtzusammenhang und nach der Bewohnbarkeit der Quartiere im Vordergrund stehen.
Im Lauf der Diskussionen haben sich unsere Vor-stellungen vom urbanen Raum als Ort des guten Zusammenlebens geweitet. Ob Neubau- oder Bestandsquartiere, sie müssen dazu beitragen, dass die Bewohner sich darin aufgehoben fühlen, dass sie das zur alltäglichen Lebensgestaltung Wünschenswerte vorfinden und hier zum gemeinsamen Nutzen und Wohlergehen kommunizieren und kooperieren können. Das ist die notwendige andere Seite des verträglichen Zusammenlebens in größerer urbaner Dichte. Auch der Städtebau muss teilhaben an der „großen Transformation“, zu der in den benachbarten und kooperierenden Disziplinen der Umweltwissenschaften heute ein gesellschaftsbezogener Diskurs geführt und in sog. Transformationslaboren erprobt wird. Solche Experimentierfelder müssen auch in die Stadtentwicklung und städtebauliche Praxis zurückkehren. Als Architekten und Stadtplaner wissen wir dabei sehr wohl, dass diese Transformation auch mit dem Zurückholen städtebaulicher Werte zu tun hat, die verloren gegangen sind.
Dazu führte der AK im Jahr 2015 zwei öffentliche Veranstaltungen mit eingeladenen Experten und einen Workshop mit planerisch besonders interessierten und engagierten Bürgern durch – jeweils in Kooperation mit der Evangelischen Stadtakademie. Am 7. Mai 2015 stand das Thema „Das Quartier bewohnen“ im Mittelpunkt mit Beiträgen, die das bessere Miteinanderleben in kommunikativen und vielfältig nutzbaren Räumen an konkreten Beispielen vorstellten. In fachlich fundierten Vorträgen stellten Doris Zoller die Ausbildung und Nutzung des Erdgeschosses vor, Manuela Skorka und Martina Schneider die Nutzungsanreicherung im öffentlichen Raum am gelungenen Beispiel des von ihnen wohlgestalteten Niederbronner Platzes in Fürstenfeldbruck, eingebettet in partizipative Verfahren, und Erich Jenewein die von Vielfalt und Nutzungsanreicherung gekennzeichneten Quartiersprojekte der Genossenschaft wagnis eG.
Als unverzichtbarer Aspekt zum Thema „Urbane Dichte gestalten“ ging es am 22. Mai 2015 um die Fragen und Spielräume des Klimaschutzes und der Klimaanpassung bei wachsender baulicher Verdichtung. Hier berichteten Dr. Sylvia Wirth, Dr. Sylvia Franzl, Dr. Ulrich Schneider und Frau Susanne Hutter-von Knorring für die drei mit Klimafragen befassten städtischen Referate und Prof. Dr. Stephan Pauleit vom Lehrstuhl für Strategie und Management der Landschaftsentwicklung der TU München-Weihenstephan über die fachlich höchst komplexen Dimensionen der Klimafragen und die Möglichkeiten des Reagierens.
Der Intensivworkshop vom 1. Oktober 2015, an dem 30 Bürgerinnen und Bürger teilnahmen, griff diese Themen auf und ergänzte sie um einen dritten Schwerpunkt zum Thema „Partizipation und Verfahrenskultur“. Die wichtigsten Erkenntnisse zu diesen drei Themenbereichen wurden am 17. November 2015 der Stadtbaurätin Frau Prof. Dr. (I) Elisabeth Merk in öffentlicher Veranstaltung vorgestellt. In der vorliegenden Februar-Ausgabe 2016 der Stand-punkte wird nun vertieft über die gewonnenen Erkenntnisse und unsere Empfehlungen berichtet.
Das Quartier bewohnen
Urbanes Leben ist in erster Linie eine Lebensform, die gewollt und bewusst gelebt wird. Sie lässt uns räumlich zusammenrücken, wofür es gleich mehrere Gründe gibt. So sind in München schon heute mehr als 50 Prozent der Haushalte Alleinwohnende. Denkt man die Alleinerziehenden und die Familien hinzu, in denen beide Elternteile arbeiten, dann wird deutlich, Zeit ist für die meisten Haushalte zur knappen Ressource geworden. Nahversorgung mit wachsendem Bedarf an wohnungsnahen Dienstleistungen für das Bündeln von Erledigungen bei möglichst kurzen Wegen ist daher wichtiger denn je.
Alleinwohnen vergrößert aber auch den Wunsch nach Kommunikation außerhalb der eigenen Wände. Bei dem hohen Münchner Mietniveau werden kleine und kompakte Wohnungen bevorzugt, wodurch sich mehr Aktivitäten an Orte außerhalb der Wohnung verlagern. Aber auch die gewachsene Lust auf urbanes Leben trägt dazu bei, dass ein neuer Bedarf an Orten des Zusammenkommens entstanden ist. Für die jungen Generationen, die die Arbeit weitgehend mit ihren Laptops, Handies und Pads erledigen, ist das erweiterte Umfeld der Wohnung zum Grundbedürfnis geworden.
Erdgeschoss
Notwendig sind daher Quartiere mit einer guten städtebaulichen Dichte,
– die kompakt, differenziert und flexibel nutzbar sind,
– zusätzlichen Raum in der Erdgeschosszone für unterschiedliche Nutzungen bieten und
– Kommunikation ohne soziale Barrieren ermöglichen.
Diese Erdgeschosszonen sollen Flächen für Kinderbetreuung, Pflegedienste für Ältere, Nahversorgung, kommerzielle und nachbarschaftliche Dienstleistungen, anmietbare Co-Working-Flächen, kurzum shared space für lebendige Vielfalt aufnehmen, der über die Zeit unterschiedliche Nutzungen zulässt. Flexible und auf Zeit nutzbare Erdgeschosszonen dienen der Lebendigkeit des Quartiers. Sie sollen das Innen und Außen einladend in Beziehung setzen. Mehr noch sollen sie das Innen und Außen verbinden, eine Übergangszone zwischen dem Privaten, Gemeinschaftlichen und Quartiersöffentlichen sein, also transparent, verbindend und zum Verweilen anregend.
Nur sehr begrenzt geht es dabei um die Befriedigung neuer Luxusbedürfnisse und Raumansprüche. Die neue Stadtgesellschaft muss haushalten. Was sie an individuellem Wohnraum einspart, kann sie durch gemeinschaftlichen Nutzraum kompensieren. Das wissen ganz besonders die neuen Wohnungsbaugenossenschaften, die sehr genau kalkulieren müssen, wofür sie sich wie viel Gemeinschaftsfläche leisten können. Dennoch sind gerade bei ihnen beachtliche Raum- und Freiflächenangebote für den gemeinsamen Nutzen entstanden, die im normalen Geschosswohnungsbau nicht zu finden sind.

Fläche vor der Erdgeschosszone zur freien Nutzung. Genossenschaft Bochum Stiftstraße | Foto: Ingrid Krau
Die Quartiersgestalt entscheidet also maßgeblich über ihre soziale Funktion, und das wird in München auch gewollt. Integration von Zuziehenden braucht ein gelebtes Miteinander, und dazu muss es Begegnungsraum geben. Umso mehr braucht es diesen bei Zuziehenden aus anderen Kulturen und Ethnien. Wichtige Erkenntnis unseres Workshops war, dass dies mit Aufwand verbunden ist, zu dem die Stadt, gemeinnützige Institutionen wie auch die Bürger beitragen müssen und wollen. Dies gelingt über den Unterhalt von Nachbarschaftstreffs mit niederschwelligen Angeboten und Begleitprogrammen, die von Personen mit sozialer Kompetenz betreut werden. Ehrenamtliche Arbeit trägt hier bereits schon große Verantwortung. Auch eine sozial gemischte Belegung von Neubauten braucht häufig Beratung und Begleitung.
Heftig debattiert wurde die Frage, ob für alle Wohngebäude kommunikative Erdgeschosszonen vorstellbar sind oder ob sie eher lageabhängig in verdichteten Bereichen zu denken sind, wie z.B. an belebten Plätzen und an Umsteigepunkten des Öffentlichen Verkehrs (ÖV), die zugleich Mobilitätsangebote bündeln. Sicher braucht jedes Quartier solche Schwerpunkte, denn München ist nicht als in sich ruhende Idylle vorstellbar. Es ist eine höchst kommunikative Großstadt, die vom Austausch lebt. Nachbarschaftliche Kommunikationsräume und nutzungsangereicherte Freiräume, die offene Innen- und Außenbeziehungen stiften, können und sollen hingegen überall entstehen und zum Selbstverständnis des Wohnens in München werden, auch wenn zunächst Pioniere die ersten Schritte tun.
Physische Gestalt und Quartiersidentität
Die Lebendigkeit und Differenziertheit der Quartiersgestalt hat durchaus eine eigene unabhängige Dimension über ihren sozialen Nutzen hinaus, die dem AK ein ganz besonderes Anliegen ist. Wesentlich geht es um die Orientierung am menschlichen Maßstab und um ein mit Sorgfalt entwickeltes differenziertes Formenvokabular, die einen verbindenden Zusammenhang urbaner Dichte herstellen und auch repräsentieren, so wie es die traditionellen, differenziert gestalteten Münchner Wohngebiete zeigen. Sie sind nicht mal eben so hochgezogen worden, sondern das Ergebnis von gestalterischer Kompetenz. Dazu zählt auch die raumbildende Wirkung der physischen Gestalt, in die die Alltagskommunikation und die Interaktionen eingebunden sind und sich als urbane Kapazität darstellen.
Identität mit der Stadt entsteht über die Differenziertheit des Erscheinungsbildes. Diese steht sowohl für ihre Geschichtlichkeit als auch für die Vielfalt des Lebensraumes. Grundlegend gehört dazu der Respekt vor den historischen Beständen. In Zeiten, in denen technologisch avancierter, rationaler Neubau billiger geworden ist als der Erhalt von Bestandsgebäuden, ist Geschichte als Bestandteil der Wahrnehmung fast schon aus dem Blick geraten. Inzwischen ist selbst der Zugriff auf Denkmalsubstanz kein Sakrileg mehr. Identität mit dem urbanen Raum stellt sich entschieden über das Neben- und Mitein-ander der Zeitzeugen verschiedener Epochen her. Jedes Quartier muss und darf sich im Laufe der Zeit verändern, es geht dabei allerdings um die Kenntlichkeit der historischen Bezüge. Stadtquartiere, die durch schnellen und radikalen Umbau nur noch aus der Jetztzeit stammen und nicht mehr vom Gewordensein in der Zeit sprechen, sehen wir als Verlust. Soweit es um Neubauquartiere geht – und in München geht es da um die letzten Flächenreserven –, sollte sich München höchste Ansprüche auferlegen.
Die Quartiersgestalt verträgt durchaus Nutzungsflexibilität. Wenn man genau hinschaut, verändert sich der bauliche Bestand kontinuierlich. Aber Wandel und Erneuerung brauchen eine gewisse Langsamkeit. Wenn das schrittweise in der Zeit passiert, wird es niemanden stören; man nimmt das Quartier als das noch immer gleiche wahr.
Identifikation mit dem Stadtteil und der Stadt braucht genauso die soziale Vernetzung. Ohne diese wird man sich kaum zuhause fühlen.
Da nur noch wenige Neubauflächen zur Verfügung stehen und auch nur wenige weitere Konversionsflächen, wird sich die Nachverdichtung zu erheblichem Teil im Bestand vollziehen. Aber auch hier sind Grenzen zu denken: der begrenzte Zugriff auf historische Bausubstanz ist schon erwähnt; darüber hinaus muss die Klimaverträglichkeit Grenzen setzen, wie bereits mit der Klimafunktionskarte angedacht (siehe dazu den gesonderten Beitrag von Wolfgang Czisch). Nicht alle gartenstadtähnlichen Gebiete können wegen ihres Baumbestands, ihres historischen Erhaltungswerts und auch mit Blick auf das gesamtstädtische Erscheinungsbild unbesehen der Nachverdichtung zur Verfügung stehen. Auch hier müssen neue Regeln des Bestandsschutzes entwickelt werden. In guter Münchner Tradition braucht es weiter die stadträumliche Differenzierung in gestaffelter Abfolge zum Landschaftsraum hin.
Regeln ändern
Nutzungsmischung muss nicht auf die grundlegende Änderung von Bundesbaugesetz und Baunutzungsverordnung warten, auch wenn es uns wünschenswert erscheint, das Gesetz vom Kopf auf die Füße zu stellen und zur Norm zu machen, was heute als Ausnahme gilt. Wohnergänzungseinrichtungen mit sozialem Nutzen, wohnungsnahe Dienstleistungen und Arbeitsplätze, die sich dem Wohnen zuordnen und vielfach in Doppelnutzung überlagern, sind längst unverzichtbare Teile des Wohnens und sollen auch rechtlich als solche anerkannt werden. In der Konsequenz wären die Gebietskategorien „reines Wohngebiet“ (WR) und „allgemeines Wohngebiet“ (WA) mit ihrem der Funktionstrennung zugehörigen Denken überflüssig bzw. nur noch als zu begründende Ausnahmefälle zuzulassen.
Bereits heute lassen sich die Ergänzungsfunktionen rechtlich absichern. Es sind ökonomische und immobilienwirtschaftliche Aspekte, die die Nutzungsmischung erschweren: das zulässige Baurecht lässt sich am lukrativsten mit Wohnflächen bis in die Erdgeschosse hinein ausnutzen. Dem soll mit Anreizen entgegengewirkt werden; z.B. mit der Gewährung einer auf die GFZ (Geschossflächenzahl) nicht anrechenbaren Bonuskubatur, im Grunde also über ein zusätzliches Baurecht für die EG-Zone. Zusätzlich ist eine Einstiegsförderung für Räume und Freiflächen mit sozialem Nutzen denkbar. Auch sparsame Flächennutzung über Joker-Zimmer, kombinierte Nutzungen und co-working-space halten wir für förderwürdig.
Die vertikale Kombinierbarkeit unterschiedlicher Nutzungen kann ebenso dem Flächensparen dienen. Zusätzliches Bauland kann u.U. durch die Überbauung von gewerblich genutzten Sockelgeschossen, wie z.B. Supermärkten, ermöglicht werden.
Soziale Mischung im Quartier und in den Wohngebäuden braucht für alle zugängliche Freiräume, Nachbarschaftstreffs und niederschwellige Begleit-programme, betreut von Personen mit sozialer Kompetenz. Sozial gemischte Belegung von Wohngebäuden braucht Beratung und Begleitung, Quartiersmanagement bzw. ehrenamtliche Betreuung in einem Quartiersverein.
Flächen mit sozialem Nutzen sollten im Grundbuch gesichert und um Vereinbarungen mit Eigentümern, Bauherren/-frauen, Eigentümergemeinschaften ergänzt werden.
Bei dem begrenzt verfügbaren Grund und Boden in München soll der städtische Boden nur noch in Erbbaurecht in klar begrenzten Zeiträumen für Wohnungsbauzwecke vergeben werden. Vor allem Wohnungsbaugenossenschaften und Baugruppen, die langfristig preisgebundenen Wohnraum erstellen und Flächen und Einrichtungen mit sozialem Nutzen realisieren, sollten prioritär Bauflächen erhalten.
Wir brauchen die Nichtprivatisierbarkeit von städtischem Wohnraum, der mit öffentlichen Mitteln gefördert wurde. Das Auslaufen von Bindungszeiträumen muss wieder aufgegeben werden. Das sollte ebenso für öffentlich geförderte Räume und Freiflächen mit sozialem Nutzen gelten – und schließlich auch für den Wohnraum, für den öffentliche Wohnungsbaufördermittel durch Private in Anspruch genommen werden.
Wir sehen daher das Programm der Stadt zum „Konzeptionellen Wohnungsbau“ – kurz KMB – als großen Gewinn für den sozialen Zusammenhalt in der Stadt. Es sollte um qualitative Kriterien weiterentwickelt und zum „Konzeptionellen Wohnungsbau mit konzeptioneller Quartiersentwicklung“ ausgebaut werden.
Jeder im Quartier Bauberechtigte – gerade auch in den Bestandsquartieren – muss über das Zahlen von Erschließungsbeiträgen dazu beitragen, dass die lebensnotwendigen sozialen Einrichtungen und städtebaulichen Qualitäten entstehen, ähnlich der SOBON-Regelung für Neubaugebiete (zur Bedeutung von Partizipation für die Stadtentwicklung siehe den Beitrag von Martin Fochler).
Ingrid Krau
Prof. Dr. Ingrid Krau, em. Univ. Professorin an der Architekturfakultät der TU München, wo sie von 1994 bis 2007 den Lehrstuhl für Stadtraum und Stadtentwicklung innehatte. Von 1995 bis 2010 war sie Direktorin des Instituts für Städtebau und Wohnungswesen der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung in München.
Dieser Text ist auch in der Ausgabe 02.2016 der Standpunkte erschienen.