In anderen, vielleicht glücklicheren Ländern hat eine Tradition des direkten Entscheidens von Bürgergemeinden und Produzentenkollektiven in eigenen Sachen, wie der Wasserführung, dem Schutz des Bannwaldes, Weidegenossenschaften, bestanden, die z.B. in der Schweiz zum prägenden Bestandteil der politischen Kultur einer modernen Demokratie geworden ist. Für die Analyse solcher „langlebiger, selbstorganisierter und selbstverwalteter“ Allmenderessourcen erhielt Elinor Ostrom 2009 als erste und bisher einzige Frau den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften.
Modernisierung durch die Obrigkeit
In den deutschen Ländern vollzog sich der Schritt in die Moderne aber als Bruch mit Traditionen der Selbstverwaltung. Die Stadt- und Regionalplanung wurde, wenn auch oft in deutlich erkennbar menschenfreundlicher Absicht, von der Zentralverwaltung durchgesetzt. Für München und sein Stadtbürgertum kam es, wie Ralf Zerback ausführlich und detailreich untersucht hat, in der Montgelas-Zeit (um 1800) zur „fast totalen Entmachtung der kommunalen Gremien“.
Die durchgreifende Obrigkeit war für Ideen der Eliten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur durchaus offen und in der Lage, ihre Pläne auch gegen Aversionen traditionsgebundener Bevölkerungsgruppen durchzusetzen. Rechtsstaatliche und demokratische Entwicklungen – markante Stationen sind die bayerische Verfassung von 1818 und die Verankerung des Allgemeinen Wahlrechts bei der Gründung des Freistaates 1918 – lockerten die autoritäre Ordnung auf, aber das Gestaltungsmonopol blieb bei den Spitzen des Staates, der Wirtschaft und der Ingenieurskunst, eine Tradition, in der die während des NS-Regimes übliche Unterstellung unter den Führerwillen nahe lag.

Gotzinger Platz 1925, Verein für Vokswohnungen | Nachdruck der Abbildungen mit freundlicher Genehmigung des Verlages aus: Christine Rädlinger, Wohnen in der Genossenschaft, Franz Schiermeier Verlag München 2009
Technokratische Irrwege und Nein-Sagen lernen
Die Planungsverfahren der Nachkriegszeit waren auf solche obrigkeitlichen Gleise gesetzt, für technische Neuerungen aber durchaus offen. Das Leistungsvermögen, auf Durchregieren und Effizienz gerichtete Planungskultur, sollte nicht unterschätzt werden. Anlässlich der Vorstellung seines Buches „München nicht wie geplant“ im letzten Dezember erinnerte Karl Klühspies [siehe auch S. 28], wie die großartigen Neuentwürfe einer funktional entworfenen Verkehrs- und Siedlungsstruktur die damals junge Generation zunächst faszinierten und wie erst die tatsächlichen, handgreiflichen Verluste an Lebensqualitäten das Publikum aufrüttelten, so dass sich – beispielhaft gegen das Projekt der autogerechten Stadt – eine kritische Öffentlichkeit entwickeln konnte, die dann mit den „Zuständigen“ heftig anein-andergeriet.
Unsere Partizipationskultur hat sich also nicht etwa aus Traditionen vorsorgender, verbessernder und verschönernder Bürgervereinigungen entwickelt, sondern aus der Notwendigkeit, eine auf zerstörende Abwege geratene Planung durch Mobilisierung der öffentlichen Meinung zu blockieren, um so Raum für Alternativen zu schaffen. Der Vorrang des Blockade-Gedankens zeigt sich auch in der Verfassungsini-tiative, in der erweiterte Rechte der Volks- und Bürgerentscheide durchgesetzt wurden. Das Ja/Nein-Verfahren einer Abstimmung wirft Argumente in die Fächer „Pro“ und „Contra“. Es führt zu Entscheidungen und ist unverzichtbares letztes Mittel. Ein Instrument der Arbeit am Problem ist es aber nicht.

Renatastraße 2009, Verein für Volkswohnungen Seit dem Stadtausbau im 19. Jahrhundert liefern genossenschaftlich finanzierte und verwaltete Wohnbauten beeindruckende Beispiele des Wohnens in verdichteter Siedlung. Im Grenzbereich von Gesellschaft und Gemeinschaft, von öffentlichem Raum und der persönlichen, kleinen Wohnung entwickelten die Wohngenossenschaften Verfahren der Selbstverwaltung, die sich zu bedürfnisorientierte Bauplanung, Hebung der Wohnkultur und auch zur Streitbeilegung in diesem Bereich naher Nachbarschaft bewähren. Sie könnten für die Gestaltung von Partizipationsprozessen hilfreiche Anregungen geben. Foto aus: Christine Rädlinger, Wohnen in der Genossenschaft
Weiter zur Arbeit am Problem
Bei dem inzwischen erreichten und noch weiter fortschreitenden Grad der Verdichtung strukturiert der öffentliche Raum den individuellen Lebensraum. Der Baum an der Ecke befindet sich in der (fürsorglichen) Herrschaft des Amtes, gehört aber gefühlt genauso gut den Anwohnern. Können sie bei der professionellen Pflege der Anlage nicht mitbestimmen, wird Herrschaft erfahren, es kommt zu Protest und Frustration. Zivilgesellschaftliche Initiativen haben dafür gesorgt, dass neben (und gestützt auf) die Organe der kommunalen Selbstverwaltung durch Bezirksausschüsse und Gemeinderat eine reiche Praxis direkter Dialoge besteht. Die professionelle Seite muss dabei anstehende Projekte und gesetzliche Rahmenbedingungen gemeinverständlich erklären. Noch so pfiffige technische Mittel können das direkte Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern nicht ersetzen, denn es geht auch darum, in Begriffen des Alltagslebens vorgebrachte Bedenken und Anregungen aufzunehmen.
Ausreichende Haushaltsmittel für Partizipation
Wir meinen deshalb, dass die Personalausstattung der planenden und ordnenden Verwaltung den neuen Aufgaben angepasst werden muss. Geld für eine informierende und fachlich beratende Begleitung zivilgesellschaftlicher Dialoge ist effektiv eingesetzt, nichts ist teurer als Fehlplanungen.
Ein verbindlicher Partizipationsleitfaden
Für die Fachverwaltung ist die Einordnung eines Vorhabens im Planungsverfahren selbstverständliche Voraussetzung jeder vernünftigen Diskussion. Für die interessierte Bürgerschaft ist der Verwaltungsvollzug ein Buch mit sieben Siegeln, das sich mit den Werkzeugen der politischen Allgemeinbildung nicht öffnen lässt. Die Bürgerinnen und Bürger, die an der Gestaltung ihrer Lebenswelt mitwirken wollen, können nicht Verwaltungsfachleute werden. Ein „Partizipationsleitfaden“ könnte beiden Seiten als Bezugspunkt dienen und faire Verhandlungen zwischen den Verwaltungsfachleuten und den zivilgesellschaftlichen Initiativen erleichtern.
Genossenschaftliches Bauen und Wohnen
Familien oder Einzelne fallen in der verdichteten Siedlung als selbständige Bauträger weitgehend aus. Der Wunsch, eine sichere, nach eigenen Vorstellungen gestaltete Wohnung zu errichten, bleibt gleichwohl eine große soziale Kraft, die sich entwickeln kann, wenn die öffentliche Hand dem entgegenkommt. Privater Raum und öffentlicher Raum überlagern sich intensiv im nahen Umfeld der Wohnung. Im verdichteten Quartier tragen Chancen zur mitwirkenden Pflege und Gestaltung zur Verbesserung der Lebensqualität bei. Wohngenossenschaften garantieren solche Möglichkeiten, und sie haben Erfolg damit.
Selbstbestimmtes Wohnen fördern
Können die erfolgreichen Modelle genossenschaftlichen Wohnens Vorbildwirkung entfalten? Welche Mitwirkung sollte die Stadt den Mietern bei ihren eigenen Wohnungsunternehmen einräumen? Was kann von privatwirtschaftlichen Anbietern verlangt werden? – Selbstverwaltung im nahen Umfeld schafft Erfahrung im Umgang mit Interessenunterschieden und schärft den Blick für naheliegende Verbesserungen.
Entscheidende Mitwirkung bei der Bestimmung von Stadtzielen
Wer das Ziffernblatt einer Uhr fixiert, sieht die Zeiger nicht vorrücken, und so fallen die Veränderungen der Verwaltungskultur, die sich in den letzten Jahrzehnten ereigneten, dem auf die Gegenwart gerichteten Blick nicht auf. Wenn wir heute beklagen, dass es mit dem Diskurs auf Augenhöhe da und dort nicht klappt, dürfen wir nicht übersehen, dass die schroffe Teilung in Obrigkeit und Untertanen heute weitgehend Geschichte ist. Transparenz des Verwaltungshandelns, aktive Information des Publikums, Bereitschaft zur Diskussion mit der Bevölkerung gelten heute als positives Leitbild von Verwaltungstätigkeit, während noch in den sechziger Jahren eine solche, aufgeschlossene Haltung mindestens ein Karriere-hindernis gewesen ist.
Trotzdem: Die Partizipationskultur, die sich in der Praxis produktiven Dialogs zwischen betroffenen und engagierten Bürgern hier und kenntnisreicher, demokratisch orientierter Verwaltung da entwickelt, ist asymmetrisch. Leicht werden die Bürgerinnen und Bürger bloß als Repräsentanten von Anliegerinteressen gesehen, die von den zuständigen und befugten Amtspersonen in die Bahnen des Allgemeinwohls gewiesen werden müssen.
Es gibt Anhaltspunkte, die belegen, dass zivilgesellschaftliche Initiativen die öffentliche Diskussion um Fragen der langfristigen Siedlungsentwicklung und um die Zukunft der Stadt bis zur Formulierung abstimmbarer Ziele führen wollen. Wenn, wie gerade jetzt, die Geschäftspolitik der Stadtwerke zum Gegenstand eines Bürgerentscheids „Raus aus der Steinkohle“ wird, zeigt sich ein Bedarf an mehr Demokratie. Stoff ist genug da: Die Leitbild- und Strategiediskussionen, die von Stadtrat und Verwaltung gepflegt werden, könnten in Richtung „Stadtziele“ konkretisiert werden. Eine solche Möglichkeit zu entscheidender Mitwirkung würde das Zusammenspiel von zivilgesellschaftlichen Initiativen, Verbänden, Parteien, Gremien der Selbstverwaltung und Fachleuten in Schwung bringen. Schon die Frage, wie solche Stadtziele aussehen könnten, weckt Interesse und Neugier.
Martin Fochler
Martin Fochler ist seit den sechziger Jahren in Arbeitszusammenhängen der Neuen Linken aktiv. Er arbeitet in den AKs „Stadt: Gestalt und Lebensraum“ und „Öffentliches Grün“ des Münchner Forums mit. Er ist Mitherausgeber der Münchner kommunalpolitischen Zeitschrift „MitLinks für ein solidarisches München“ sowie der „Studienreihe Zivilgesellschaftliche Bewegungen – Institutionalisierte Politik“, die vom Kurt-Eisner-Verein für politische Bildung in Bayern e.V. gefördert wird.
Dieser Text ist auch in der Februar-Ausgabe der Standpunkte erschienen.