19.05.2015: Wenn dieser Artikel erscheint, dürfte die Zwitterlösung für den Gasteig – Philharmonie und Symphonie – nicht mehr aktuell sein. Aber auch für einen Konzertsaal-Neubau gibt es keine genaue Vorstellung darüber, welche Orchester außer dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks diesen Saal nutzen sollen. Und ob er nur der Klassik oder auch anderen Musikformen dienen soll. Wie „aus gut unterrichteten Kreisen“ zu erfahren war, gibt es auch kein mit künftigen Nutzern abgestimmtes Raumprogramm. Definitiv weiß niemand, wie groß dieser Neubau sein muss. Doch eine Findungskommission des Ministeriums sucht eifrig nach einem geeigneten Grundstück. Wie groß der Raumbedarf für einen solchen Konzertsaal sein müsste, hat deshalb das Münchner Forum bei Musikmanagern erfragt.
Die Konzertsaaldebatte schlägt hohe Wellen. Kaum ein Tag vergeht derzeit in München ohne einen Medienbeitrag zu diesem Thema. Ganze Zeitungsseiten, ja Doppelseiten werden damit gefüllt. Voll sind auch Veranstaltungssäle, in denen man über einen zusätzlichen Konzertsaal diskutiert. Alle Aspekte dieses Themas, sollte man meinen, lägen daher längst auf dem Tisch.
Weit gefehlt. Das belegt schon das Schlagwort, das die Debatte beherrscht, die Bezeichnung „Konzertsaal“.
Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (BR) und seine Unterstützer fordern zu Recht einen eigenen Standort mit Erstbelegungsrecht, damit das Orchester dort seine Spitzenleistungen erarbeiten und aufführen kann. Sie fordern also nicht nur einen Aufführungsort, sondern gleichermaßen eine Arbeitsstätte für Spitzenmusik.
Dafür würden benötigt: Zwei Dirigentenzimmer von je ca. 20 Quadratmetern Größe, acht ähnlich große Solistenzimmer, drei Dutzend wiederum ähnlich große Stimmzimmer für die einzelnen Stimmgruppen (Instrumente), zehn kleine Übungsräume von je ca. 15 qm, vier Kammermusik-Übungsräume von je etwa 50 qm, ein Orchester-Probensaal von ca. 450 qm, ein Chorprobensaal, Instrumentenläger vor allem für Geigen, Bässe, Schlagzeug sowie fünf Konzertflügel, Stauraum für die Kisten, in denen Instrumente, Noten und Konzertkleidung für Gastspiele verpackt werden, ein Tonstudio, ein Fernsehstudio, Technik- und Klimaräume, Platz für die Bühnenmaschinerie sowie etwa 15 Verwaltungsräume von je etwa 20 qm – alles zusammen rund 2.500 qm; dazu die nötigen Nebenflächen (Flure, sanitäre Räume, Fluchtwege) von zusammen ca. 20 Prozent zusätzlichem Flächenbedarf, insgesamt also rund 3.000 Quadratmeter und damit deutlich mehr, als ein Konzertsaal für 2.200 Zuhörer beansprucht. Dieser Platzbedarf wird in der gegenwärtigen „Konzertsaal“-Debatte fast durchweg übersehen. Dabei ist zu beachten: Diesen Bedarf hat jedes Spitzenorchester, dass am jeweiligen Standort beheimatet ist und dort tagtäglich arbeitet. Gäbe es diesen Backstage-Bereich nicht, erginge es ihm wie einem Spitzensportler ohne Spitzen-Trainingsgelände: Nach einer Saison gehörte er nicht mehr zur Spitze.
Schon diese Rechnung macht klar, dass die momentane Debatte am Bedarf vorbei geht. Bedenkt man zusätzlich, dass ein Neubau wie die Philharmonie in Paris wirklich ein „Haus der Musik“ ist und nicht nur ein Haus für die Klassik, dass dort alle Musikstile zuhause sind, alle Aneignungs- und Darbietungsformen, dann wird vollends klar, wie komplex die Herausforderung ist. Und hält man wie sehr viele Münchner Bürgerinnen und Bürger die Symbiose der Musik mit anderen kulturellen Aktivitäten nach dem Vorbild des Gasteigs für gut gelungen, dann würde als Konsequenz aus einem Konzertsaal-Verlangen nicht nur das nach einem Haus der Musik, sondern nach einem Haus der Kulturen der Welt. Es in München zu schaffen, lohnt jede Mühe, verlangt aber auch, die momentan viel zu enge Debatte grundlegend zu öffnen.
Beispiele wie die Hamburger Elbphilharmonie zeigen, dass ein Projekt finanziell völlig aus dem Ruder laufen kann, wenn man nicht rechtzeitig darüber einig ist, was man eigentlich will. Daraus sollte München und sollte der Freistaat schnellstens lernen. Hamburg zeigt aber auch, wie sehr ein Haus der Musik das Bild einer Stadt und ihre Ausstrahlung prägen kann. Richtig angepackt und richtig zuende gebracht kann München mit einem künftigen Haus der Musik an einem herausragenden Ort eine städtebauliche und architektonische Ikone des 21. Jahrhunderts bekommen – wie das Zeltdach des Olympiaparks als Ikone des 20. Jahrhunderts. Es ist also Zeit für einen strategischen Schub.
Gernot Brauer